Als ich dich das erste Mal sah, warst du der mittlere Turm inmitten einer Mauer von großen Menschen. Es muss in irgendeinem dieser Underground-Clubs in den 90er Jahren gewesen sein, stampfende Rhythmen, von Minimal Techno bis hin zu dem, was man heute Deeskalationsmusik nennt, damals aber Easy Listening. Die Luft war stickig, eine leichte Biernote inklusive und wenn man aufs Klo musste, ging der Weg über einen zugemüllten Innenhof, vorbei an den ganzen Gestalten, die lässig ihre Becks-Flasche in der Hand hielten und auch mitternachts noch Sonnenbrillen trugen.
Du warst der große Mittelpunkt einer Clique, die sich gerade erst zu formieren begann, und zu der ich dann später auch gehörte, qua Beziehung, und nach deren Ende immer mal wieder lose. Mit deiner schieren Körpergröße – ich glaube, nur mein Ex-Freund M. reichte mit seinen 2 Metern an dich heran -, den langen, zu einem Zopf gebundenen Haaren, den Schnürstiefeln und dem coolen Hoodie warst du ebenso eindrucksvoll wie einschüchternd. Dazu noch deine Erzählungen von irgendwelchen Autonomen-Events, vortragen in einem minimalen Münchner Singsang, deine klaren Überzeugungen für das, was die Welt ausmachen sollte. Deine Dissertation über irgendein physikalisch-technisches Thema, das ich nicht auch nur annähernd begreifen würde, war für dich der Anker in der wilden Partyzeit, in der wir uns trafen, aus den Augen verloren, und uns wieder trafen.
Irgendwann einmal hast du dir den Fuß gebrochen und wurdest genagelt und geschient. Wir wohnten nicht weit auseinander, und so habe ich dich ein paar Mal zum Orthopäden zur Nachsorge abgeholt, hingefahren und wieder zurück gebracht. Ich hatte Zeit dafür, damals, es machte mir nichts aus, aber du hast mir noch Jahre später dafür gedankt. Wir unterhielten uns in den Wartezimmern oft über unsere Rolle in der Welt. Ich hatte die meine noch nicht gefunden, habe es bis heute nicht, aber du schienst so sicher, ich war wie immer beeindruckt von deiner Größe. Kurioserweise nannten dich immer alle den „kleinen M.“, aber nett gemeint.
Irgendwann hast du dann A. kennengelernt, eine große, eine starke Frau, klug und warmherzig, denke ich, denn ich habe sie nur ein, zweimal gesehen, aber sie war wie du und das war schön. Dein Mittelpunkt wurde die Familie und obwohl die wilden Partyzeiten ein- für allemal vorbei waren, erzählten wir uns bei den seltenen Treffen von der mumifizierten Katze im Brauerei-Gewölbe unter dem Prenzlauer Berg, den Unisex-Toiletten im Cookie’s oder den halb illegalen Bars, damals.
Letzte Woche sagtest du ein Treffen ab, weil du dich wirklich nicht fit fühltest, eine blöde Entzündung, Antibiotika-Gaben. Alt werden sei kein Spaß, schriebst du mir per Mail, mit Smiley natürlich, Jahrgang 65 ist doch kein Alter. Ich dachte, schade, da haben wir uns so lange nicht gesehen und am Wochenende zuvor hatte eure Teilnahme an einem Abend im Freundeskreis irgendwie auch nicht geklappt. Du wünschtest mir viel Glück für die Reise und gabst mir den Auftrag, Neuseeland von dir zu grüßen, dein großes Sehnsuchtsziel.
Das werde ich nun machen, kleiner, großer M. Ich bin traurig, dass du nicht mehr da bist. Du warst ein wirklich Großer.
Hier standen gestern Abend schon einige sehr liebe und mitfühlende Kommentare. Danke euch! Durch einen Datenbankfehler sind diese sowie der vorangegangene Beitrag „Reiseplan“ (konnte nicht wieder hergestellt werden) leider gelöscht worden.