Nachbarn sind ja so eine Sache. Man hasst sie, man liebt sie. Sie sind da. Und im ungünstigsten Fall hört und riecht man sie. Kopfkino: Warum heult das Kleinkind aus der 2. Etage im Hinterhof so lange? Wurde es misshandelt? Hat man nicht erst letztens auch Frauenschreie gehört? Der neue Nachbar nebenan, um Himmels Willen, was raucht der da auf dem Balkon bloß in Kette? Gesund kann das nicht sein. Immerhin: seine Nieren funktionieren gut, das hören wir jeden Morgen gegen sieben, wenn wir zu den Klängen seines Mittelstrahls langsam erwachen. Aber was wissen wir wirklich von unseren Nachbarn, der Hood, die uns umschließt wie ein wohliger Klangkokon?
Das Haus, in dem ich seit 14 Jahren wohne, bzw. die Häuser, denn das Nebenhaus gehört den selben Eigentümern, einem Schwesternpaar aus Brandenburg, ist ein typisches Berliner Mietshaus aus dem ersten Viertel des vergangenen Jahrhunderts. Der Teil des Prenzlauer Bergs, in dem es steht, war kein edles Wohngebiet. Viele der Häuser sind schlicht verputzt, jene jedenfalls, die der Krieg verschonte. Wenige haben hübsche Stuckfassadenelemente. Luxussaniert sind – noch – wenige, denn bis vor einigen Jahren war das Viertel ein sogenanntes Milieuschutzgebiet. Aber es ändert sich langsam. Alles wird edler, aus Baulücken wachsen moderne Architekturträume, deren Wohnzellen fast unbezahlbar sind. Oberklasseautos werden dezent in neu gegrabene Tiefgaragen gefahren. Die Zugezogenen ändern alles, heißt es.
Nur in unserem Haus hat sich nicht sehr viel geändert. Es gibt noch einige Wohnungen mit Ofenheizung. Der Hausflur wurde vor Jahren mal gestrichen, die große Miniermottenkastanie im Hof gefällt, dafür zwei schlanke Bäumchen gepflanzt und Rasen gesät. In unserem Haus sind es zehn Mieter, im Nebenhaus neun. Meine Hood ist eigentümlich beständig.
Im Erdgeschoss
Wenigstens ein Zeichen der Gentrifizierung: ein Babysitterservice hat vor einigen Jahren die Vormieterin Frau S abgelöst. Frau S war eine sehr begehrte Modedesignerin in der DDR, eine elfenhafte Erscheinung, auch in höherem Alter mädchenhaft, die silberweißen Haare stets zu einem Pferdeschwanz gebunden. Aus ihrer Wohnung roch es nicht gut, denn ihre entworfenen Kleider – und sehr viel Müll und sehr viele leere Flaschen – wuchsen langsam alles zu, sodass ihr nur noch schmale Wege zum Laufen blieben. Irgendwann wurde sie wohl abgeholt, und der Müll mit ihr.
Herr L gegenüber ist selten da. Eigentlich wird die Wohnung nur für Büroarbeiten genutzt, was wegen des fehlenden Bads und der Ofenheizung auch empfehlenswert erscheint.
Im Nebenhaus wohnt seit zwei Jahren eine italienische Familie mit zwei Kindern. Nein, sie wohnt nicht, sie lebt. Die Kids spielen vor dem Wohnzimmerfenster auf der Straße, die Fenster sind weit offen, es wird gern und oft telefoniert. Sie lassen uns unbewusst teilhaben an ihrem Leben.
Der Elektroservice gegenüber ist wohl geschlossen oder wird nur noch als Lager genutzt. Jedenfalls werden die Rolläden gar nicht mehr hochgezogen.
Im 1. Stock
Frau S und Herr H fahren Motorrad. Ein ziemlich schnelles Motorrad. Sie spielt auch sehr gut Klavier. Ihre Fußmatte gehört mit zum Hässlichsten, was ich je gesehen habe. Sie haben sie vom Hipster-Vormieter übernommen, dessen jeweilige Freundinnen mitunter heulend vor der Türe saßen, wenn er mal wieder mit einer Anderen zugange war.
Herr K ist in meinem Alter. Er war mal ein ziemlich gut aussehender Mann mit seinen halblangen, braunen Haaren und dem Dreitagebart. Er hat gern gefeiert, gut gegessen. Wir sind im Laufe der Jahre beide ein wenig in die Breite gegangen. Er grüßt mich vielleicht auch deswegen immer freundlich.
In der 2. Etage
Herr B hört schlecht. Mit über 70 darf man das. Man darf dann auch laut Musik hören und sich mit seiner ebenfalls schwerhörigen Freundin auf dem Balkon unterhalten. Das muss drin sein, das müssen auch die Nachbarn akzeptieren. Warum ich Herrn B liebe? Er sitzt dann und wann mit seiner Nähmaschine auf dem Balkon und spricht mit ihr: „Du, liebes Ding, nimmst den Unterfaden und nähst schön…“
Frau H ist nur dann und wann in Berlin. Sie ist freie Journalistin und als sie schwanger wurde, ist sie zu ihrem Freund nach Ludwigsburg gezogen. Sehr glücklich ist sie dort nicht, sagt sie. Sie wird schräg angesehen, wenn sie ihren Sohn später aus dem Kindergarten abholt, weil sie noch einen Termin hat. Irgendwann, so ihr Plan, will sie mit Kind und Mann wieder zurück nach Berlin. Vielleicht auch ohne Mann. Wer weiß das schon so genau. So lange will sie die günstige Wohnung behalten, Flucht- und Schutzraum für die Seele.
Die 3.
Gegenüber wohnte mal Frau L, die einiges über das Haus zu erzählen wusste. Seit über 30 Jahren lebte sie dort, im Viertel geboren und aufgewachsen, Bauzeichnerin gelernt, einen Sohn aufgezogen, der jetzt Musiker im Konzerthausorchester ist. Sie hatte Krebs. Heute wohnt dort eine junge, schöne und sportliche Frau mit italienischem Nachnamen.
Wir. Seit 14 Jahren ich allein. Seit letztem Jahr gemeinsam mit dem Mann.
Und im Nebenhaus der rauchende und pinkelnde Nachbar.
Im obersten Geschoss
Frau G hat eine Tochter, die seit einigen Jahren auch eine Tochter hat. Zwei Teenagerschwangerschaften waren das. Frau G passt dann und wann auf die Enkelin auf, und in meiner Hood fällt sie gar nicht auf, so als Großmutter. Hier haben viele Kinder Eltern, deren Lebensentwurf Nachwuchs erst spät vorsah oder die jahrelange Fruchtbarkeitsbehandlungen hinter sich bringen mussten, um endlich mit Zwillingswagen durch die Gegend schieben zu können. Frau G hat nicht nur diese Wohnung. Eigentlich wohnt sie mehr in der Datsche (=Wochenendhaus) im Brandenburgischen. In der Zwischenzeit schaut
Herr T nach der Post. Italiener von Geblüt und Gemüt, Doktor der Biochemie aber Musiker aus Leidenschaft, ist Herr T ein eigentlich sehr verträglicher Obermieter. Bis auf die letzten Wochen, in denen er oft laut flucht und schreit und Dinge durch die Wohnung wirft. Wir werden ein Auge drauf haben. Wenn der Putz runterkäme, würden wir schon was sagen. So ist das in Berlin. Woanders hätten sie schon die Polizei gerufen.
Ich mag diese Hood. Wir müssen uns aber langsam nach einer größeren Wohnung umsehen. Nicht aus Zwang, aber es wäre schön. Schon allein, dass der Mann auch seine Möbel und Dinge gut unterbringen kann, in meinem ehemaligen Revier. Ich mag nämlich keine Revierkämpfe, zu denen ich leider neige, wenn sich Dinge ändern, jemand zuzieht.
Hallo neues Blog! Und gleich so eine schöne Geschichte zum Start.
Wie schön, das eigene Blog ist endlich fertig 🙂 Freue mich auf deine Geschichten!