Wir@Mauerfall.

Der Mann.
Am Abend sind die Kumpels und ich in die Wohnheimdisco in der Coppistraße gegangen, wie eigentlich immer. Feiern und was trinken, wie immer. Irgendwann kam der R. an: „Die Mauer ist übrigens auf, Jungs!“ Nee, ist klar. „R., du bist doch besoffen!“ Wir lachten, feierten noch ein bisschen und gingen dann schlafen, um für die Seminare am nächsten Tag fit zu sein.

Spannend wurde es erst am nächsten Tag. Die Nachrichten klangen irgendwie unglaubwürdig. Das kann doch nicht sein. Mauer offen, Grenzverkehr. Mit dem S. auf dem Weg zur Uni, in meinem von einem Verwandten geerbten, knallroten Trabi mit mattschwarzem Dach, auf den ich so stolz war. Kurze, schnelle Entscheidung, doch noch einem Umweg zum Checkpoint Charlie zu machen. Mal gucken, was da wirklich los ist. Wir sahen eine ziemlich lange Autoschlange. Als gelernter Ossi stellt man sich an Schlangen natürlich an. Außerdem wollten wir nur mal gucken. Zurück zur Uni können wir immer noch schnell, ist alles keine Entfernung in Ostberlin.

Die Zolltante: „Wollen Sie denn wieder zurückkommen aus Westberlin?“ Blöde Frage. „Ja, wollen wir!“ Und zack, waren wir im Westen.

Mit einem schnell geschenkten Stadtplan und dem Telefonbuch habe ich dann meinen Onkel ausfindig gemacht, der um diese Uhrzeit in seiner Kanzlei sein musste. Der fiel aus allen Wolken: „Bist du denn total verrückt, du kannst doch deine Eltern nicht im Stich lassen!“ Er hatte noch keine Nachrichten gehört und war völlig von der Rolle. Er, der ehemalige Fluchthelfer, der meine Tante mit einem Diplomatenwagen in den Westen geschmuggelt hatte, war fassungslos. Wir verabredeten uns für den Abend bei seinem Lieblingsitaliener und gingen noch mal auf den Kudamm. Dort trafen wir unseren Pharmakologie-Professor, bei dem wir jetzt eigentlich im Seminar sitzen sollten.

Wir haben dann noch Fotos gemacht, unter dem Straßenschild und gelacht: „Wir auf dem Kurfürstendamm.“ Und als Autoverrückte Studenten haben wir uns bei BMW die Modelle angeschaut und Probe gesessen.

Wir waren wie Touristen.

Die Frau.
17 Uhr. Donnerstag, mein Schwimmtag. Meine Mutter bringt D. und mich in den Nachbarort, wo im Schwimmbad Warmbadetag ist. Wir schwimmen unsere Stunde, quatschen noch ein bisschen am Beckenrand bis uns kalt wird. D. wird nach dem Abi erst einmal eine Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin machen, weil die Noten nicht für den Direkteinstieg ins Studium reichen werden. Das weiß sie schon. Ich weiß noch gar nichts. Meine Noten sind okay, aber ich habe keine Ahnung, was ich will. Nach dem Abi weiß ich es vielleicht, aber bis dahin ist noch ein halbes, dreiviertel Jahr. Und ich muss mich heute noch mal hinsetzen, um für die Halbjahresklausur in Bio, meinem ersten Leistungskurs zu lernen. Geschichte und Französisch, da geht auch noch ein bisschen was, obwohl ich nicht das Gefühl habe, dass unsere Lehrer sehr viel erwarten. In Kunst, meinem zweiten Leistungskurs*, ist ohnehin alles offen, da fragt keiner nach Orientierung und wirklichen Ergebnissen. Zeichnen kann ich, Kunstgeschichte und Interpretation, naja, geht irgendwie alles.

19.30 Uhr. Ich setze mich nach dem Abendessen an den Schreibtisch. Im Hintergrund laufen Nachrichten im alten Schwarzweiß-Fernseher, von Oma geerbt. Zwischen Texten zu Genetik und Nuklein-Basen horche ich auf. „Grenzöffnung“, höre ich. Ich setze mich vor den Fernseher. Wahnsinn, denke ich. Was ist das denn? Meine Eltern kommen rein. „Hast du auch…?“ „Ja. Komisch, gell?“ „Wir gehen jetzt trotzdem zum Tanzabend, bis später, ja?“ „Ja, bis dann.“

22.30 Uhr. Mein Freund ruft an. Eigentlich darf er das nicht. Er sitzt in seiner Kaserne im nordhessischen Schwarzenborn, ist zum Wehrdienst bei den Panzegrenadieren gelandet, bekommt aber häufig die Funk- und Fernmeldedienste, mit Telefonzugang. „Die Mauer ist offen“, sage ich, „Hast du das schon mitbekommen?“ Nein, sagt er, wir haben hier heute noch keine Nachrichten gesehen, da war eine Manöverübung, aber bist du sicher? „Ja“, sage ich, „Sie zeigen das im Fernsehen, da stehen Menschen auf der Mauer am Brandenburger Tor. Wahnsinn.“

23 Uhr. Ich gehe schlafen, nachdem meine Eltern gute Nacht gesagt haben. Ich denke ans Abi. Danach weiß ich vielleicht, was ich will.

*Ja, liebe Kinder, damals im Hessen der 80er Jahre war das noch möglich – Kunst Leistungskurs, unglaublich, nicht?

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