WMDEDGT 09/2018.

Nachdem ich in den vergangenen zwei Monaten schlicht und einfach verpasst habe, den Tagesablauf des 5. Tages eines Monats zu beschreiben, nehme ich den beginnenden Frühling auf der Südhalbkugel zum Anlass neu zu beginnen. Also alles neu macht der September (also das Äquivalent zum März auf der Nordhalbkugel). Und wie immer gehören die Kudos für dieses Projekt Frau Brüllen. 

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Gegen sieben wachte ich vom Duschgeräusch nebenan auf, denn der brasilianische Student steht immer recht früh auf der Matte, um ja rechtzeitig zu seinen BWL-Vorlesungen zu kommen. Außerdem brandet der Lärm des Autoverkehrs um diese Uhrzeit das erste Mal mit voller Wucht in die Wohnungen. In meiner temporären Unterkunft leben die Vermieterin Gladys, ihr Sohn samt gelegentlichem Besuchskind, an drei Tagen pro Woche ihre Tochter, der brasilianische Student, ein chilenischer Student und ich. Sie fragen sich sicherlich: wie groß muss die Wohnung sein, damit alle unterkommen? Sie ist groß, keine Frage. Aber anders als wir es in Deutschland gewohnt sind, schläft Gladys mit ihren (längst erwachsenen) Kindern in einem Zimmer. Es ist Teil dieser Kultur, dass Familienmitglieder sehr eng aufeinander glucken und die Kinder auch in erwachsenem Alter noch oder wieder bei ihren Eltern wohnen. Ich habe übrigens mein eigenes Zimmer.

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Ich döste noch ein wenig, setzte mich aber um acht an den Schreibtisch und las die ersten Mails. Der Chef wollte wissen, ob denn der Arbeitsvertrag endlich angekommen sei. Nun ja, ist er nicht, nach drei Anläufen und diversen Verhandlungen waren wir uns endlich einig geworden, aber die Schulverwaltung ist seeehr langsam und nun muss der Chef Druck machen.

Nach Badbesuch, Frühstück und Kaffee setzte ich mich wieder an den Schreibtisch. Es waren zwei Klausuren und zwei Unterrichtseinheiten vorzubereiten. Bei den Klausuren ist es etwas kniffelig, denn die eine Deutschklasse ist erschreckend schwach. Der vorherige Lehrer hat sie mehr oder minder „durchgeschleift“, aber am Ende müssen sie ja den offiziellen DSD-Test bestehen und das werden sie mit dem bisherigen Stand mit Sicherheit nicht. Da wartet noch viel Arbeit auf mich…

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Gegen Mittag rief ich in Deutschland an, um meine Zugangsvoraussetzungen zur Prüfer- und Bewerterbefähigung zu erfragen. Aha, man ist wohl etwas lockerer gegenüber Nichtpädagogen, aber sie wollen eine Bescheinigung der Schule, dass ich den Wirtschaftsunterricht auf Deutsch halte. Kriegen sie. Ich machte mir zur Belohnung etwas Undefinierbares aus dem Grillhähnchen von gestern, Tomatensauce und Ziegenkäse. Gemeinsam mit dem brasilianischen Studenten und Gladys aßen wir zu Mittag.

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Um 14 Uhr saß ich wieder am Schreibtisch, wo ich mich um eine Mitnahmegelegenheit für einen Brief aus Deutschland bemühte. Ich halte wenig von internationalem Postverkehr, nachdem einige Päckchen, Briefe und auch Postkarten aus Deutschland satte zwei bis drei Monate unterwegs waren – Priorityaufkleber hin oder her! Ich fand über die Facebook-Gruppe „Deutsche in Santiago“ jemanden, der Ende September von Berlin nach Santiago fliegt und mir meine Dokumente mitbringen kann. Ich bin jedes Mal wieder sehr erfreut, wie gut die sozialen Medien funktionieren können. Ich stellte die erste Klausur vollständig fertig, adaptierte die zweite für die stärkere Klasse auf ein höheres Schwierigkeitsniveau und schrieb an einem Artikel herum. Bis um kurz nach 17 Uhr ein heftiger Stoß meinen Schreibtisch wackeln ließ. Luna, der Hund von Gladys, fing an zu bellen und Gladys selbst klopfte an meine Zimmertüre, deren Knauf ich bereits in der Hand hatte. Erster Grundsatz bei Erdbeben: Türen öffnen und Fluchtwege freihalten. Wir warteten einen Moment im Wohnzimmer, ob der Erdstoß nur der Auftakt zu etwas Stärkerem sein würde. Aber da auch nach zehn Minuten nichts wackelte, ginge ich wieder in mein Zimmer. Im Nachhinein konnte ich auf meiner bevorzugten Erdbebenseite lesen, dass das Epizentrum rund 100 Kilometer südlich von Santiago lag und der Erdstoß mit 5,1 auf der Skala nach hiesiger Meinung kein Erdbeben („Terremoto“) sondern nur ein „Temblor“. Alles gut, also.

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Nicht alles gut, also, erfährt man auch, wenn man die Tagesabläufe anderer Menschen liest. Frau ReadOns Bericht machte mein Herz schwer. Ich erinnerte mich an meine Krankenhausbesuche und dachte daran, was es bedeutet, loslassen zu müssen. Den anderen gehen zu lassen, obwohl man doch so gerne weiter gemeinsam durch diese Welt gewandert wäre. Dabei ist der andere schon längst einen Schritt voraus, beinahe hat er die Eingangspforte zum Hades erreicht. Und nichts kann ihn zurückholen, kein Gesang, kein Verhandeln mit dem Tod. Nichts. Lesen Sie bitte alles von Frau ReadOn, sie hat so viel zu geben, jeder einzelne ihrer Buchstaben erzählt von Leben und Tod, von Vergangenheit und Zukunft. Ich wünsche ihr mehr vom Guten.

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Gegen sechs Uhr ging ich zum Supermarkt um die Ecke, um Wasser zu kaufen. Ich hasse Flaschenwasser, Deutschland hat es gut. Fast überall kann man das Wasser aus der Leitung trinken und es schmeckt. Hier kann man das auch, aber in meinem Bezirk ist so viel Chlor im Wasser, dass man es an den Zähnen merkt und die Haut nach dem Duschen unangenehm nach Schwimmbad riecht. Dass da noch eine kleine Seelentrostschokolade mit im Beutel war, musste sein.

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Gegen viertel vor acht hatte ich Hunger und machte mir ein Brot. Marraqueta heißt das hier genießbare Brot, ähnlich dem italienischen Ciabatta. Man kann es auch als Vollkornversion kaufen, das schmeckt dann zwar besser, ist aber auch schneller – Achtung! Kalauer! – brottrocken. Ich verbrauchte die letzten Reste der Leberwurst, die es hier glücklicherweise in jedem gutsortierten Supermarkt gibt. Überhaupt: der chilenische Geschmack ist dem deutschen recht ähnlich. Alles mit viel Fleisch, deftig, es darf gern fett sein. Einzig der Mangel an Pfeffer und Knoblauch an vielen Gerichten fällt auf. Dafür wird gern Koriander verwendet. Koriander ist meine Katzenminze!

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Nach dem Essen sah ich mir noch Nachrichten im Netz und eine Folge einer Serie auf Netflix an, las ein wenig im Internet und ging dann früh weil erledigt schlafen.

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(Nein, es gibt keine neuen Nachrichten vom Verehrer. Weder von ihm noch vom Caballero. Manchmal ist es gut, wenn die Telenovela eine kleine Pause einlegt und die Heldin ihre Gedanken und Gefühle neu sortiert. Aber es kommen ja auch wieder andere Zeiten.)

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