„Frau!“

Die erste Unterrichtsstunde. Auf dem Plan steht Kommunikation im Beruf, schließlich müssen die angehenden Groß- und Außenhandels-, Schifffahrts- und Logistikkaufleute wissen, wie sie zukünftig einem (deutschen) Kollegen stilvoll erklären, dass er Bullshit erzählt.

Der Direktor stellt mich vor, ich gebe einen kurzen Überblick darüber, was ich bisher so gemacht habe und einzig bei der Information, ich käme aus Berlin, blitzt kurz ein wenig Interesse in den müden Gesichtern auf. Morgens um 8 in Santiago de Chile.

Mein Gesicht wird nicht eben wacher aussehen als das meiner SchülerInnen. Ich stehe um 6 Uhr auf, um den Bus um 7 erwischen zu können. Wenn er denn kommt. Die Linie 411 fährt nämlich eine Teilstrecke auf der Stadtautobahn und das kann durchaus Stau bedeuten. Wenn ich in der Buschecker-App der städtischen Verkehrsbetriebe Transantiago sehe, dass die Nummer 411 farblich blass unterlegt ist, heißt das: umdenken und mich flugs in eine der beiden Linien werfen, die wenigstens in Richtung der Berufsschule fahren. Weiter heißt das aber auch, dass ich ein tüchtiges Stück Weg mehr zu laufen habe und mich wahrscheinlich verspäten werde. Ich hoffe auf einen für mich attraktiveren Stundenplan im nächsten Semester.

Der Unterricht läuft nach Plan, wir gehen die Aufgaben durch, es gibt eine Wortschatzklärung und -Wiederholung. Ein bisschen Grammatik streue ich ein, weil trotz oder wegen sechs Jahren Deutschunterricht in der Schule das Sprachniveau erschreckend niedrig ist. Mit dem Direktor habe ich besprochen, dass wir bei den Aufgaben bleiben, ich aber versuchen soll, die SchülerInnen ein bisschen zu motivieren, sich aktiver mit der Sprache auseinander zu setzen. 90 Minuten gehen erstaunlich schnell herum, wenn man Lehrer ist und die SchülerInnen viel selbst machen müssen, aber immer wieder Fragen haben. Fragen, die mit einem für mich sehr ungewohnten und lauten „Frau!“ beginnen.

Der Lehrer/die Lehrerin wird nicht wie in Deutschland mit Frau Sowieso/Herr Sowieso angesprochen, sondern klassisch mit einem respektvollen Senora/Senor. Das ist erst einmal irritierend, weil es mir so allgemein und geradezu unhöflich vorkommt. Ist es zwar nicht, aber ich werde es den SchülerInnen erklären, dass sie zukünftig mit dem Nachnamen ansprechen müssen. Schließlich können sie auch keine E-Mail mit der – bereits gelesenen – Phrase „Sehr geehrte Frau“ (ohne Nachnamen) beginnen.

Ich stehe in vielerlei Hinsicht noch ganz am Anfang. Schließlich bin ich keine studierte Pädagogin, sondern nur DaF-Lehrerin nach einer Crash-Ausbildung. Aber ich bin eigentlich ganz zuversichtlich und einen Sympathiepunkt habe ich bei den SchülerInnen zumindest: sie müssen mir ihre Sprache beibringen. Das weckt ein bisschen mehr Verständnis auf beiden Seiten. Nicht wahr, „Frau“?

2 Gedanken zu „„Frau!“

  1. Was mich daran erinnert, wie der damals zehnjährige Sohn meines Ex diesem stolz erzählte, seine Lehrerin sei „la Frau Ingrid“. Er besuchte eine deutsche Schule in Peru, wo die Lehrer und Lehrerinnen mit Frau/Herr [Vorname] ansprachen. Den Grund für diese Regelung habe ich nie erfahren.

    • Oh, heute hatten wir einen ersten Fortschritt. Ich wurde nach meinem Vornamen gefragt und ob ich einverstanden sei, wenn man mich damit rufen würde. Damit kann ich sehr gut leben.

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