Über den Wolken.

Oft, wenn ich in den vergangenen dreieinhalb Jahren geflogen bin, ging es bei Start oder Landung kurz durch eine Wolkendecke. Ich liebe es, wenn diese Wattebäusche aus Wassermolekülen am Himmel stehen und stelle mir gern vor, dass der Mann da drauf sitzt. Ich grüße dann kurz in Gedanken eine der Wolken, die mir besonders hübsch erscheint.

Letzten Donnerstag flog ich wieder einmal und ich hatte den Mann in Frankfurt auf einer Wolke gegrüßt, eher virtuell, weil es bereits dunkel war. Der Flug verlief ereignislos, ich schlief sogar einige Stunden, nachdem ich den wirklich außergewöhnlichen Film „Joker“ mit Joaquin Phoenix gesehen hatte. Wir waren noch über dem Atlantik, als über das Bordmikro die Bitte nach einem Arzt ausgesprochen wurde, es gäbe einen medizinischen Notfall. Ein junger Mann und eine Frau meldeten sich und eilten, begleitet vom Chefpurser, nach hinten. Die meisten Passagiere bekamen nicht viel davon mit, weil sie schliefen. Es war Viertel vor fünf morgens, als die Wiederbelebungsmaßnahmen begannen. Der alte Herr wurde von seinem Sitz gehoben und nach hinten in eine der letzten – nicht besetzten – Reihen gebracht. Nicht lange danach kam eine erneute Durchsage, das Licht ging an. Man würde wegen eines medizinischen Notfalls in Fortaleza (Brasilien) zwischenlanden müssen.

Gleich nach der Ankunft auf dem mit einer nicht allzu langen Landebahn ausgestatteten Flughafen – wir bremsten sehr heftig – versehenen Flughafen, eilte ein Ärzteteam nach hinten. Kurz danach betraten zwei offiziell aussehende Herren das Flugzeug, Klemmbretter, Dokumentenmappen und eine Tasche unter dem Arm. Der Chefpurser seinerseits kam ebenfalls wieder nach hinten und hielt ein Protokolldokument in der Hand. Spätestens da wurde mir klar, dass wir einen Toten an Bord hatten. Nachdem  die Offiziellen sowie das Ärzteteam das Flugzeug rund eineinhalb Stunden später wieder verlassen hatten, gingen der Chefpurser sowie die Ärztin, die erste Hilfe geleistet hatte, zu einer alten Dame, die in der gleichen Reihe saß wie ich. Sie fing laut an zu weinen. Die Passagiere saßen schweigend auf ihren Sitzen.

Die Durchsage kam kurz danach: Man würde jetzt wieder starten, leider habe man eine traurige Information zum medizinischen Notfall und müsse nun weiterfliegen nach Sao Paulo, da die Crew durch den langen Zwischenstopp von mehr als 2,5 Stunden ihre Arbeitszeit bei einem Direktflug nach Santiago in nicht zulässigem Maß überschreiten würde. In Sao Paulo würden die Crew gewechselt und wir Passagiere weitergeleitet nach Santiago. Ich dachte an den alten Herrn. Wo war er? Wie war die Crew mit seinem Leichnam umgegangen? Und hatte sie Passagiere umgesetzt? Wie ist eigentlich das Prozedere in solchen Fällen?

Diese Fragen bewegten auch andere Passagiere, die beim Verlassen des Flugzeugs einen der Flugbegleiter dazu befragten. Seine Antwort: Es gibt ein international gültiges Reglement, das mehr oder weniger besagt, dass kein Fluggast im Flugzeug versterben kann, sondern immer am Landeort von offizieller Seite der Tod bestätigt werden muss. Die Crew oder Ärzte an Bord seinen mehr oder weniger verpflichtet, so lange Wiederbelebungsmaßnahmen durchzuführen, bis man am Boden sei. Da das absurd ist, gibt es die Todesbestätigung dann erst am Boden, obwohl der Tod schon über den Wolken eingetreten ist.

Ich las nach, dass einige Airlines Leichensäcke mit sich führen, es gibt sogar Flugzeugmodelle mit einem Schubfach im Passagierbereich, in das ein Leichnam gebracht werden kann. Aus Sicherheitsgründen darf der tote Passagier nicht in einer Toilette oder im Servicebereich liegen. In vollbesetzten Flugzeugen lassen die Airlines den Toten auf dem Sitz, bedecken ihn aber mit einer Decke. Oder sie bringen ihn in die erste Klasse, wo sie ihn ebenfalls mit einer Decke verhüllen. Der alte Herr hatte immerhin eine ganze Reihe für sich.

Mein Gruß in die Wolken, ein letzter, ging bei der Landung in Santiago nach bald 30 Stunden Reise an den alten Herrn in der Economy, fünf Reihen hinter mir. Ich hoffe, ihm geht es gut auf seiner Wolke.

 

 

Ein Gedanke zu „Über den Wolken.

  1. Dieses „internationale Prozedere“ kenne ich als Chefpurser nicht. Bei jedem Todesfall an Bord wird individuell entschieden. Fest steht, dass es kaum einen Arzt gibt, der den Tod ohne instrumentenbasierte Untersuchungsmaßnahmen bestätigt und eine angefangene Reanimation deshalb fortgesetzt werden muss. Wenn die Ärztehotline jedoch einspringt, darf unterbrochen werden. Wegen eines Toten wird normalerweise nicht zwischengelandet, nur wegen eines Falles, bei dem die Zwischenlandung Besserung verspricht. Oder wenn die Belastung für Crew und Passagiere so groß ist, dass eine Gefährdung der Sicherheit eintreten könnte. Mehr darf ich dazu nicht sagen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert