Sonnencreme.

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Absolventen des Jahres 1999
Benutzen Sie Sonnencreme,  

Ich stand neulich bei heißen 30° Celsius im Stau und im Radio lief ein lange nicht gehörtes Lied: „Sonnencreme“, die Vertonung einer Zeitungskolumne durch den Regisseur Baz Luhrmann. Ich sah in die anderen Fahrzeuge und die genervten Blicke der Fahrer, las ihre Gedanken. Nur fünf Minuten schneller! Kann der Typ im Audi vor mir nicht aufschließen? Wieso hat mich der Chef nicht dem Oberchef vorgestellt? Jetzt eine rauchen. Nur fünf Minuten schneller, ohne Stau, wären sie!

Die wahren Probleme in ihrem Leben sind meist Dinge an die Sie in ihren sorgenvollen Stunden nie denken würden.

Dinge die zum Beispiel an einem unbeschwerten Dienstagnachmittag um vier aus heiterem Himmel auf Sie niederprasseln.

Bei uns war es kein Dienstagnachmittag um vier. Ich kann mich nicht einmal an das genaue Datum erinnern, aber es war ein Spätherbst vor einigen Jahren und die Diagnose lautete Krebs. Der Mann war krank. Krebs und Krankheit als Synonym beinhaltet ja immer die Chance zur Heilung. Daran hielten wir uns, zumal der Krebs „der gutartige unter den bösartigen“ Arten war. Aber es änderte alles.

Vielleicht heiraten Sie,
vielleicht auch nicht,
vielleicht haben Sie Kinder,
vielleicht auch nicht,
vielleicht lassen Sie sich mit 40 scheiden,
vielleicht feiern Sie auch ihren 75sten Hochzeitstag mit einem Ententanz. 

Wir heirateten nach überstandener Behandlung, um unseren 75sten Hochzeitstag ganz sicher nicht mit einem Ententanz zu feiern. Wir sind beide eher Nichttänzer. Aber wir würden keine Kinder haben. Auch keine Adoptivkinder, denn lebensbedrohliche Krankheiten wie Krebs gelten erst nach fünfjähriger Karenzzeit als geheilt. Das hört sich ungerecht an, dient aber dem Kindeswohl. Und nach zwei Jahren war der Krebs ohnehin wieder da. Und nach weiteren acht Monaten wieder, diesmal schlimmer, akute Lebensbedrohung durch Komplikationen. Wieder eine lange, eine noch längere, noch einschneidendere Behandlung, wieder warten, Bestrahlung, warten, OP. Jetzt, seit einigen Tagen, erneut die Diagnose. Wieder alle Planungen in den Wind schießen. So ist das mit Krankheiten: sie lassen sich kaum in ein „normales“ Leben integrieren, man kann nicht mehr planen, Urlaube, Auszeiten, Kinder – alles wird temporär unplanbar oder sogar unmöglich. Aber was will man machen? Ich halte mich in solchen Zeiten an meinem Mantra „Isso. Aufstehen, weitermachen.“ fest. Was diese Zeit den Mann an Kraft gekostet haben mag, kann ich mir kaum vorstellen. Aber sie kostet auch den Gesunden neben dem Kranken viel, viel Kraft. Wie bei duldenden (leidenden) Partnern von Alkoholikern wird man zum Co-Kranken.

Haben Sie Freude an ihrem Körper,
nutzen Sie ihn soviel wie möglich.
Haben Sie keine Angst vor ihm oder davor,
was Andere über ihn denken,
er ist das beste Instrument, das Sie haben.

Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir auf unserem Instrument spielen, mit ihm spielen, wenn wir es nicht pflegen. Ich möchte nicht in esoterische Welten eintauchen, aber: Körper und Geist sind für mich eine Einheit, das eine erhebt sich nicht über das andere, mens sana in corpore sano, eben. Manchmal muss ich mich zwingen, meine Übergewichtskilos anzugehen, mich morgens aus dem Bett zu quälen, um meinen Körper ein bisschen zu spielen. Aber genauso muss ich darauf achten, dass meine Seele an eigenen Krankheiten oder denen anderer keinen Schaden nimmt. Ich kann mir helfen lassen. Ich kann mir Auszeiten nehmen. Ich bin nicht Mutter Teresa. Ich bin ein Mensch.

Machen Sie sich klar,
dass Freunde kommen und gehen,
aber pflegen Sie einige wertvolle Freundschaften, tun Sie alles um sich räumlich und menschlich nahe zu bleiben,
denn je älter Sie werden, desto mehr sind Sie auf Menschen angewiesen, die Sie schon als Kind kannten.

Der Mann und ich haben großes Glück mit unseren Freunden. Sie nehmen uns viel ab, viel auf und sind da, wenn es richtig, richtig Scheiße ist. Er kennt seine, ich die meinen, Freunde aus den Frühzeiten des Studiums, das ist heutzutage ja fast so viel wert wie Sandkastenfreundschaften. Unsere Freunde sind übrigens toll. Ihre, liebe Leser, bestimmt auch. Könnten Sie ihnen ja mal wieder sagen.

Abschließend ist es wie mit dem Luhrmannschen Text: Viele zusammenhanglose Teile ergeben ein Ganzes, ein Leben. Und das geht weiter. Zu zweit.

Aber das mit der Sonnencreme,
können Sie mir glauben.

 Wo er Recht hat, hat er Recht, der gute Baz. Ich fuhr an den ganzen unzufriedenen Staustehern vorbei nach Hause und war zufrieden.

Yoga.

Erinnern Sie sich noch an diese Partei, die sich in ihren Wahlwerbespots in einer Art Schneidersitz in die Luft katapultierten und das als „yogisches Fliegen“ bezeichneten? Okay. Dann können Sie sich vielleicht vorstellen, warum ich mit Yoga an sich relativ lange nichts anfangen konnte. Yoga, das war irgendwas für diese nach Patchouli duftenden Batikmodeträger, bei denen man nie sicher sein konnte, ob das fortgesetzte Abbrennen von Räucherstäbchen oder lange nicht gepflegte Achselhaare einem den Verbleib in ihrer unmittelbaren Nähe, nun ja, schlecht vermittelbar machten.

Bis vor einigen Jahren die ein oder andere Freundin anfing, über „diese wahnsinnige Entspannung“ zu sprechen, eine „neue, innere Ausgeglichenheit“, die sie nach Ende des Scheidungsprozesses und Verbringung der Brut in eine hoffnungsvoll stimmende schulische Laufbahn verspürte. Nun bin ich weder geschieden, noch muss ich mir über die Zukunft eines Nachwuchses Gedanken machen, aber mich ereilen dann und wann Stimmungsschwankungen, die ich nun doch noch nicht mit einer in einigen Jahren dräuenden Menopause in Verbindung bringen möchte.

Um es frank und frei zu sagen: ich habe häufiger Rücken. Und ich habe häufiger schlechte Laune, unter anderem bedingt durch einige Kilogramm zu viel auf den Rippen, was auch möglicherweise für den Rücken verantwortlich… – ach, lassen wir das. Nun, jedenfalls übte eine meiner grandiosen Ex-Kolleginnen einen wohltuenden Einfluss auf mein Sportverhalten aus, indem sie mich einfach jeden Dienstag und Donnerstag in das Büronahe Fitnessstudio zerrte. Um gemeinsam „die alten Knochen in Schwung zu bringen“. Und bei Samara den Yogakurs zu besuchen.

Wir schnauften, dehnten, atmeten, ommten und wurden tatsächlich etwas beweglicher wenngleich nicht ganz so ausgeglichen wie die oben beschriebenen Scheidungsfreundinnen. Wir übten unverdrossen gemeinsam weiter, bis ich endlich und sehnlichst erhofft, die Kleinstadt gegen Großstadt und den Job in einem eher schwierigen Umfeld gegen einen in einem anspruchsvollen (sprich: schwierigen) Umfeld eintauschen konnte, Ende des Fitnessstudiovertrags inklusive. Ich wurde geistig wieder beweglicher, körperlich dagegen immobiler. Was tun, was nun?

Alle Fitnessstudios in Laufweite waren entweder teuer – ich bezahle einfach keine 69 Euro per Monat für eine mäßig ausgestattete Lofthalle – oder eine dieser McDingsbums-Ketten, die ich grundsätzlich ablehne. Die Yogastudios in meinem Kiez dufteten tatsächlich nach Räucherstäbchen und nahmen offenbar nur Mütter und Geschiedene auf, die bereits Bekanntschaft mit dem Wiederaufbau des Beckenbodens gemacht hatten. Also googlete ich und fand: Susanne Fröhlich, mir als Moderatorin aus sehr alten Jugendzeiten von meinem damaligen Heimatsender HR3 bekannt. Frau Fröhlich wurde nach Geburten, Genuss und Scheidung erst moppelig, dann dünn, schrieb einige Bücher darüber und nahm eine Yoga-DVD auf.

Ich machte mich also eines schönen Morgens auf, mit Hilfe ihrer DVD erneut in die Yoga-Welt einzutauchen. Es ist sehr mühevoll. Die Yoga-Matte passt gerade zwischen Bücherregal, Sofa und Fernseher, mitunter schlage ich mit der Handspitze gegen eine Vase oder quetsche mir den Fuß an der Wohnzimmertür. Ganz zu schweigen vom Ehemann, der, gelegentlich zu meiner Übungszeit bereits wach, grinsend durch die Glastüre linst. Widrige Umstände, also. Dennoch bin ich neulich ein wenig geschwebt. Ich versichere Ihnen, es war so. Einige Zentimeter über dem Boden schwebte ich und konnte gerade so aus dem Fenster schauen. Der Nachbar von gegenüber dehnte sich gerade in den Sonnengruß und im dritten Stock darüber konnte ich eine rüstige Seniorin beim Kranich beobachten. Ich sage Ihnen, demnächst machen wir eine neue Partei auf: Hauptprogrammpunkt „Frieden durch Yoga“. Wer fliegt, darf dann auch am Flughafen BER landen.

Stein.

Steine haben den unschätzbaren Vorteil, dass sie ihrer Umwelt gegenüber eher unemotional reagieren. Ich nehme sie mir also dann und wann als Vorbild. Dann und wann ist zum Beispiel, wenn mich ein Anruf vom, nennen wir ihn der Einfachheit halber, „Altstar“ ereilt. Das „Wann“ kann durchaus schon früh am Morgen sein, also noch vor dem ersten Kaffee, was in sich eine gewisse Gefahr birgt. Ich bin nämlich morgens eher schlecht gelaunt, dieses Aufstehen bekommt mir nicht, der Berufsverkehr lässt mich das Ende der Menschheit herbeiwünschen und, wie erwähnt, Anrufe vor 9 Uhr sind an und für sich schon eine ziemliche Zumutung.

Exkurs: Wie machen das eigentlich Menschen, die ihren Dienstbeginn freiwillig auf kurz nach 7 Uhr legen? Gibt es Drogen, von denen ich nichts weiß? Eine bestimmte, leistungssteigernde Religion, der man gegebenenfalls beitreten kann?

Wie auch immer, der Altstar rief heute Morgen an. Körperlich dem Alter näher als der Jugend, buntvogelig gekleidet und mit einer Ich-war-früher-mal-Rocker-Attitüde gesegnet, begleitet er den Chef durch die beruflichen Anforderungen, berät mal hier, informiert unter der Hand mal dort und lässt sich die Gerüchteküche bei Vertragsabschluss in barer Münze entgelten. Grundsätzlich finde ich das okay, solange mich jener Herr meine Arbeit machen lässt.

Und hier kommt das oben erwähnte „Dann“. Anlass war eine Image-Firmenbroschur, gemeinsam entwickelt und in Form gebracht mit einer sehr guten Agentur. Ich denke, Qualität in diesem Bereich kann ich nach fast 20 Jahren Berufserfahrung einschätzen und fordere sie auch ein. Nun sieht das der Altstar eher so, dass seine mehr als 40 Jahre Berufserfahrung in einem ganz, ganz anderen Bereich dafür prädestinieren, mir gegenüber diese qualitätsvolle Hochglanzbroschur als „Aldi-Blatt“ zu bezeichnen.

Das ist der Moment, in dem ich gern zu Stein würde. Einem sehr höflichen Stein, dem solche Worte wie Wasser abperlen. Leider bin ich aber ein eher unsicherer Stein, der zuerst einmal überprüft, ob die Kritik nicht berechtigt ist: War das Papier zu billig? (Nein.) Wie haben die Kunden/Investoren/Multiplikatoren die Broschur eingeschätzt? (Überrascht, dass ein Mittelständler so potent ist.) Bin ich zu arrogant, zu kritikunfähig, bin ich am Ende etwa zu ungeduldig zu anderen Menschen? (Letzteres ja, aber ich verschwende einfach ungern meine Zeit damit, Dumme schlau zu machen. Naja, und arrogant bin ich damit wohl auch. Aber egal.)

Ich werde meine Stein-Qualitäten wohl noch etwas verbessern müssen. Irgendwann bin ich dann hart wie Granit und der Altstar und weitere seiner Art werden sich ihre Zähne an mir ausbeißen. Bis dahin singe ich leise mein Mantra: „Ich bin ein Stein. Ich bin ein Stein. Ich bin ein…“

Leserbrief vom 13. Juli 2014

Die wunderbare Welt der Spam-Mails…

admin[at]gmc.com schreibt:

Man könnte dies als eine dieser zufälligen E-Mails von anonymen Personen zu verwechseln. Ich bin einer der pensionierten Direktoren der China Petrochemical Corporation Haupt. Ich kam, um von Ihnen i…n meiner Suche nach einem zuverlässigen und seriösen Person, um eine sehr vertrauliche Transaktion, die die Übertragung von einer erheblichen Geldsumme beinhaltet behandeln wissen.

Es gab Reihe von Verträgen durch ein Konsortium von multinationalen Unternehmen in Nord-Ost-China, unter denen sich geführt;

1) Der Ausbau des Pipeline-Netzes für Rohöl und nachgelagerten Produkten Verteilung und anschließender Evakuierung.
2) Vertrag für Wartung Turn around (TAM) von verschiedenen Raffinerien in Nord-Ost-China.
3) Der Bau von Lagertanks für Petroleum-Produkt (Depots).

Sie müssen jedoch beachten, dass diese Transaktion unterliegt den folgenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen; unsere Überzeugung Ihrer transparent, Ehrlichkeit und Fleiß, die Sie müssen diese Transaktion mit größter Vertraulichkeit und Geheimhaltung zu gewähren.

Reagieren Sie mit Ihren vollständigen Details wie Voll Namen und Adresse, Alter und Telefon Details. Sie werden freundlich gebeten, sich strikt an die folgende E-Mail aus Sicherheitsgründen antworten:eurbv@aim.com

Einmal mehr möchte ich Sie zu verstehen, dass in über 38 Jahren Dienst für Erdölsektor meines Landes setzen; Ich bin sehr abgeneigt, mit meinem Bild und Karriere verbeult. Diese Frage sollte daher mit größter Geheimhaltung und Dringlichkeit behandelt werden.

Mit besten Grüßen,
CMG.

Hood.

Nachbarn sind ja so eine Sache. Man hasst sie, man liebt sie. Sie sind da. Und im ungünstigsten Fall hört und riecht man sie. Kopfkino: Warum heult das Kleinkind aus der 2. Etage im Hinterhof so lange? Wurde es misshandelt? Hat man nicht erst letztens auch Frauenschreie gehört? Der neue Nachbar nebenan, um Himmels Willen, was raucht der da auf dem Balkon bloß in Kette? Gesund kann das nicht sein. Immerhin: seine Nieren funktionieren gut, das hören wir jeden Morgen gegen sieben, wenn wir zu den Klängen seines Mittelstrahls langsam erwachen. Aber was wissen wir wirklich von unseren Nachbarn, der Hood, die uns umschließt wie ein wohliger Klangkokon?

Das Haus, in dem ich seit 14 Jahren wohne, bzw. die Häuser, denn das Nebenhaus gehört den selben Eigentümern, einem Schwesternpaar aus Brandenburg, ist ein typisches Berliner Mietshaus aus dem ersten Viertel des vergangenen Jahrhunderts. Der Teil des Prenzlauer Bergs, in dem es steht, war kein edles Wohngebiet. Viele der Häuser sind schlicht verputzt, jene jedenfalls, die der Krieg verschonte. Wenige haben hübsche Stuckfassadenelemente. Luxussaniert sind – noch – wenige, denn bis vor einigen Jahren war das Viertel ein sogenanntes Milieuschutzgebiet. Aber es ändert sich langsam. Alles wird edler, aus Baulücken wachsen moderne Architekturträume, deren Wohnzellen fast unbezahlbar sind. Oberklasseautos werden dezent in neu gegrabene Tiefgaragen gefahren. Die Zugezogenen ändern alles, heißt es.

Nur in unserem Haus hat sich nicht sehr viel geändert. Es gibt noch einige Wohnungen mit Ofenheizung. Der Hausflur wurde vor Jahren mal gestrichen, die große Miniermottenkastanie im Hof gefällt, dafür zwei schlanke Bäumchen gepflanzt und Rasen gesät. In unserem Haus sind es zehn Mieter, im Nebenhaus neun. Meine Hood ist eigentümlich beständig.

Im Erdgeschoss

Wenigstens ein Zeichen der Gentrifizierung: ein Babysitterservice hat vor einigen Jahren die Vormieterin Frau S abgelöst. Frau S war eine sehr begehrte Modedesignerin in der DDR, eine elfenhafte Erscheinung, auch in höherem Alter mädchenhaft, die silberweißen Haare stets zu einem Pferdeschwanz gebunden. Aus ihrer Wohnung roch es nicht gut, denn ihre entworfenen Kleider – und sehr viel Müll und sehr viele leere Flaschen – wuchsen langsam alles zu, sodass ihr nur noch schmale Wege zum Laufen blieben. Irgendwann wurde sie wohl abgeholt, und der Müll mit ihr.

Herr L gegenüber ist selten da. Eigentlich wird die Wohnung nur für Büroarbeiten genutzt, was wegen des fehlenden Bads und der Ofenheizung auch empfehlenswert erscheint.

Im Nebenhaus wohnt seit zwei Jahren eine italienische Familie mit zwei Kindern. Nein, sie wohnt nicht, sie lebt. Die Kids spielen vor dem Wohnzimmerfenster auf der Straße, die Fenster sind weit offen, es wird gern und oft telefoniert. Sie lassen uns unbewusst teilhaben an ihrem Leben.

Der Elektroservice gegenüber ist wohl geschlossen oder wird nur noch als Lager genutzt. Jedenfalls  werden die Rolläden gar nicht mehr hochgezogen.

Im 1. Stock

Frau S und Herr H fahren Motorrad. Ein ziemlich schnelles Motorrad. Sie spielt auch sehr gut Klavier. Ihre Fußmatte gehört mit zum Hässlichsten, was ich je gesehen habe. Sie haben sie vom Hipster-Vormieter übernommen, dessen jeweilige Freundinnen mitunter heulend vor der Türe saßen, wenn er mal wieder mit einer Anderen zugange war.

Herr K ist in meinem Alter. Er war mal ein ziemlich gut aussehender Mann mit seinen halblangen, braunen Haaren und dem Dreitagebart. Er hat gern gefeiert, gut gegessen. Wir sind im Laufe der Jahre beide ein wenig in die Breite gegangen. Er grüßt mich vielleicht auch deswegen immer freundlich.

In der 2. Etage

Herr B hört schlecht. Mit über 70 darf man das. Man darf dann auch laut Musik hören und sich mit seiner ebenfalls schwerhörigen Freundin auf dem Balkon unterhalten. Das muss drin sein, das müssen auch die Nachbarn akzeptieren. Warum ich Herrn B liebe? Er sitzt dann und wann mit seiner Nähmaschine auf dem Balkon und spricht mit ihr: „Du, liebes Ding, nimmst den Unterfaden und nähst schön…“

Frau H ist nur dann und wann in Berlin. Sie ist freie Journalistin und als sie schwanger wurde, ist sie zu ihrem Freund nach Ludwigsburg gezogen. Sehr glücklich ist sie dort nicht, sagt sie. Sie wird schräg angesehen, wenn sie ihren Sohn später aus dem Kindergarten abholt, weil sie noch einen Termin hat. Irgendwann, so ihr Plan, will sie mit Kind und Mann wieder zurück nach Berlin. Vielleicht auch ohne Mann. Wer weiß das schon so genau. So lange will sie die günstige Wohnung behalten, Flucht- und Schutzraum für die Seele.

Die 3.

Gegenüber wohnte mal Frau L, die einiges über das Haus zu erzählen wusste. Seit über 30 Jahren lebte sie dort, im Viertel geboren und aufgewachsen, Bauzeichnerin gelernt, einen Sohn aufgezogen, der jetzt Musiker im Konzerthausorchester ist. Sie hatte Krebs. Heute wohnt dort eine junge, schöne und sportliche Frau mit italienischem Nachnamen.

Wir. Seit 14 Jahren ich allein. Seit letztem Jahr gemeinsam mit dem Mann.

Und im Nebenhaus der rauchende und pinkelnde Nachbar.

Im obersten Geschoss

Frau G hat eine Tochter, die seit einigen Jahren auch eine Tochter hat. Zwei Teenagerschwangerschaften waren das. Frau G passt dann und wann auf die Enkelin auf, und in meiner Hood fällt sie gar nicht auf, so als Großmutter. Hier haben viele Kinder Eltern, deren Lebensentwurf Nachwuchs erst spät vorsah oder die jahrelange Fruchtbarkeitsbehandlungen hinter sich bringen mussten, um endlich mit Zwillingswagen durch die Gegend schieben zu können. Frau G hat nicht nur diese Wohnung. Eigentlich wohnt sie mehr in der Datsche (=Wochenendhaus) im Brandenburgischen. In der Zwischenzeit schaut

Herr T nach der Post. Italiener von Geblüt und Gemüt, Doktor der Biochemie aber Musiker aus Leidenschaft, ist Herr T ein eigentlich sehr verträglicher Obermieter. Bis auf die letzten Wochen, in denen er oft laut flucht und schreit und Dinge durch die Wohnung wirft. Wir werden ein Auge drauf haben. Wenn der Putz runterkäme, würden wir schon was sagen. So ist das in Berlin. Woanders hätten sie schon die Polizei gerufen.

Ich mag diese Hood. Wir müssen uns aber langsam nach einer größeren Wohnung umsehen. Nicht aus Zwang, aber es wäre schön. Schon allein, dass der Mann auch seine Möbel und Dinge gut unterbringen kann, in meinem ehemaligen Revier. Ich mag nämlich keine Revierkämpfe, zu denen ich leider neige, wenn sich Dinge ändern, jemand zuzieht.