Was in Zeiten wie diesen möglicherweise zum Denken anregt: lesen. Heute gerade erst – ich bin ja ein enormer Spätzünder – gehört, dass Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“ in meiner unmittelbaren Nachbarschaft verortet ist und schon 2011 vom Aufbau-Verlag in einer unlektorierten Ausgabe neu aufgelegt wurde. Widerstand im Kleinen, im Proletariat, mit einfachsten Mitteln. Auch etwas, worüber man, weil so personalisiert wie es eben geht, als Kommunikationsform nachdenken könnte. Wehret den Anfängen.
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250.
Der Kaufvertrag ist gesiegelt. Meine Zustimmung beglaubigt. Vor fast einem Jahr schloss sich die schwere, metallverstärkte Holztüre mit der abgegriffenen Messingklinke und damit ein zweieinhalb Jahrhunderte währendes Firmenkapitel und eine lange Familiengeschichte. Wenn man es genau nimmt, sind es sogar noch einige vierzig Jahre mehr, aber die erste offizielle Beurkundung stammt aus dem Jahr 1765.
Damals schlängelte sich der Main noch ungebändigt und langsam durch die Lande und der mittelalterliche Kern meiner Heimatstadt mit Fachwerkhäusern und einer Wasserburg beherrschte die von calvinistischen Flüchtlingen frisch und rechtwinklig angelegte Neustadt. Der Fluss, das Leben am und auf dem Fluss schufen die Grundlage für die Existenz meiner Vorfahren. Messschiffer waren sie, zu Beginn wohl nicht besonders erfolgreich, datiert doch von 1766 ein Gerichtsurteil auf Rückzahlung von Schulden an einen Bürger und Rotgerber aus Wertheim am Main gegen meinen Vorfahren samt Sohn.
Kriegsgewinnler wurden sie mit dem landgräflichen Auftrag, Soldatennachschub für den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu verschiffen. Statt Holz und Waren wurden nun Menschen das entsprechende Handelsgut entlang der rund 26 Main-Zollstationen bis Mainz. So richtig erfolgreich wurden meine Vorfahren aber erst, als ab 1818 die Zölle und ab 1831 das Stapelrecht aufgehoben wurden. Und mit der Entscheidung, eine Holzhandlung in meiner Heimatstadt fest zu etablieren. Viele Schiffer waren damals auch Holzhändler und die Stadt benötigte dringend Holz zum Ausbau der neu hinzugekommenen Viertel.
Am Mainkanal, der damals noch bis in die Innenstadt reichte und heute eine kleine Grünanlage inmitten von Einfamilienhäusern ist, wurde ein solides Haus errichtet. Mit Lager- und Kontorräumen, Wohnungen und Dienstleutekammern, nur wenige Meter von den flachen Mainkähnen entfernt, die stetig neue Ladungen löschten. Das Biedermeier kam und damit ein größeres, herrschaftliches Haus, das heute unter Denkmalschutz steht. Damals wurde wohl auch der Gingkobaum gepflanzt, dessen Blattform eine weißgoldene Familienbrosche an der Brust meiner Urgroßmutter zierte. Aus dieser Zeit stammt noch der Ring, mit Haarstickerei und der emaillierten Inschrift „In Erinnerung an den besten der Väter“.
Eine gute Zeit für meine Vorfahren. Auf zwei Gemälden, die lange Zeit bis zu ihrem Diebstahl Weiterlesen
Wir@Mauerfall.
Der Mann.
Am Abend sind die Kumpels und ich in die Wohnheimdisco in der Coppistraße gegangen, wie eigentlich immer. Feiern und was trinken, wie immer. Irgendwann kam der R. an: „Die Mauer ist übrigens auf, Jungs!“ Nee, ist klar. „R., du bist doch besoffen!“ Wir lachten, feierten noch ein bisschen und gingen dann schlafen, um für die Seminare am nächsten Tag fit zu sein.
Spannend wurde es erst am nächsten Tag. Die Nachrichten klangen irgendwie unglaubwürdig. Das kann doch nicht sein. Mauer offen, Grenzverkehr. Mit dem S. auf dem Weg zur Uni, in meinem von einem Verwandten geerbten, knallroten Trabi mit mattschwarzem Dach, auf den ich so stolz war. Kurze, schnelle Entscheidung, doch noch einem Umweg zum Checkpoint Charlie zu machen. Mal gucken, was da wirklich los ist. Wir sahen eine ziemlich lange Autoschlange. Als gelernter Ossi stellt man sich an Schlangen natürlich an. Außerdem wollten wir nur mal gucken. Zurück zur Uni können wir immer noch schnell, ist alles keine Entfernung in Ostberlin.
Die Zolltante: „Wollen Sie denn wieder zurückkommen aus Westberlin?“ Blöde Frage. „Ja, wollen wir!“ Und zack, waren wir im Westen.
Mit einem schnell geschenkten Stadtplan und dem Telefonbuch habe ich dann meinen Onkel ausfindig gemacht, der um diese Uhrzeit in seiner Kanzlei sein musste. Der fiel aus allen Wolken: „Bist du denn total verrückt, du kannst doch deine Eltern nicht im Stich lassen!“ Er hatte noch keine Nachrichten gehört und war völlig von der Rolle. Er, der ehemalige Fluchthelfer, der meine Tante mit einem Diplomatenwagen in den Westen geschmuggelt hatte, war fassungslos. Wir verabredeten uns für den Abend bei seinem Lieblingsitaliener und gingen noch mal auf den Kudamm. Dort trafen wir unseren Pharmakologie-Professor, bei dem wir jetzt eigentlich im Seminar sitzen sollten.
Wir haben dann noch Fotos gemacht, unter dem Straßenschild und gelacht: „Wir auf dem Kurfürstendamm.“ Und als Autoverrückte Studenten haben wir uns bei BMW die Modelle angeschaut und Probe gesessen.
Wir waren wie Touristen.
Die Frau.
17 Uhr. Donnerstag, mein Schwimmtag. Meine Mutter bringt D. und mich in den Nachbarort, wo im Schwimmbad Warmbadetag ist. Wir schwimmen unsere Stunde, quatschen noch ein bisschen am Beckenrand bis uns kalt wird. D. wird nach dem Abi erst einmal eine Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin machen, weil die Noten nicht für den Direkteinstieg ins Studium reichen werden. Das weiß sie schon. Ich weiß noch gar nichts. Meine Noten sind okay, aber ich habe keine Ahnung, was ich will. Nach dem Abi weiß ich es vielleicht, aber bis dahin ist noch ein halbes, dreiviertel Jahr. Und ich muss mich heute noch mal hinsetzen, um für die Halbjahresklausur in Bio, meinem ersten Leistungskurs zu lernen. Geschichte und Französisch, da geht auch noch ein bisschen was, obwohl ich nicht das Gefühl habe, dass unsere Lehrer sehr viel erwarten. In Kunst, meinem zweiten Leistungskurs*, ist ohnehin alles offen, da fragt keiner nach Orientierung und wirklichen Ergebnissen. Zeichnen kann ich, Kunstgeschichte und Interpretation, naja, geht irgendwie alles.
19.30 Uhr. Ich setze mich nach dem Abendessen an den Schreibtisch. Im Hintergrund laufen Nachrichten im alten Schwarzweiß-Fernseher, von Oma geerbt. Zwischen Texten zu Genetik und Nuklein-Basen horche ich auf. „Grenzöffnung“, höre ich. Ich setze mich vor den Fernseher. Wahnsinn, denke ich. Was ist das denn? Meine Eltern kommen rein. „Hast du auch…?“ „Ja. Komisch, gell?“ „Wir gehen jetzt trotzdem zum Tanzabend, bis später, ja?“ „Ja, bis dann.“
22.30 Uhr. Mein Freund ruft an. Eigentlich darf er das nicht. Er sitzt in seiner Kaserne im nordhessischen Schwarzenborn, ist zum Wehrdienst bei den Panzegrenadieren gelandet, bekommt aber häufig die Funk- und Fernmeldedienste, mit Telefonzugang. „Die Mauer ist offen“, sage ich, „Hast du das schon mitbekommen?“ Nein, sagt er, wir haben hier heute noch keine Nachrichten gesehen, da war eine Manöverübung, aber bist du sicher? „Ja“, sage ich, „Sie zeigen das im Fernsehen, da stehen Menschen auf der Mauer am Brandenburger Tor. Wahnsinn.“
23 Uhr. Ich gehe schlafen, nachdem meine Eltern gute Nacht gesagt haben. Ich denke ans Abi. Danach weiß ich vielleicht, was ich will.
*Ja, liebe Kinder, damals im Hessen der 80er Jahre war das noch möglich – Kunst Leistungskurs, unglaublich, nicht?