Kochverlust.

Rosenkohl mit Kartoffeln in der Pfanne geschwenkt, dazu Bacon und gehobelter Parmigiano und ein Schuss Muskat-Pinienkern-Sahne. Gesalzen mit Tränen.

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Ich werde so lange nicht mehr für mich kochen, bis ich keine Portionen für zwei bemesse und beim Einkaufen überlege, wie ich jemandem Appetit machen kann, der eigentlich nicht mehr essen möchte.

Note to self: öfter Freunde zum Essen einladen. Dann würze ich auch wieder mit normalem Salz.

Arbeit.

Langsam taste ich mich in ein Leben zurück, fern von Krankheit und Tod. Die Tage in der Klinik haben Spuren hinterlassen. Es war schwer. Es war lang. Er hat gekämpft und konnte doch nicht gehen. Sein Löwenherz, im Leben wie im Sterben.

Jeder Tag ist nun Arbeit. Das Aufstehen ist Arbeit, das Essen, das Trinken, die Verwaltung eines vergangenen Lebens. Die Arbeit selbst ist das, was noch am Leichtesten fällt. Sie gibt Struktur und fordert den Kopf, die Bilder der vergangenen Zeit auszublenden und mit neuen Bildern zu füllen.

Allein, was fehlt, ist die Trauer. Ich falle nicht in ein Loch, weine wenig, gräme mich nicht und kann durchaus lächeln. Ich funktioniere bestens. Ich bin nur so unendlich müde. Die Freundin sagt, das käme noch, mit der Trauer. Auch Trauerarbeit sei schließlich Arbeit.

In der Zwischenzeit spreche ich wenig, räume auf, putze und wische die Krankheit und den Tod aus der Wohnung.

Über das Gehen.

Wir haben dann ein Einzelzimmer bekommen. Eines mit einer schönen Aussicht in den Park mit den alten Klinikgebäuden von Ludwig Hoffmann, deren Backsteinklinker schon fast einen hanseatischen Touch nach Preußen bringen. Man kann in den Himmel sehen und die Mauersegler fliegen fast auf Fensterhöhe. Manchmal hört man sogar einen Falkenruf, wenn nicht gerade der Notfallhelikopter die Hintergrundbeschallung übernimmt.

Sonst herrscht hier Ruhe. Die Ruhe, die vielleicht benötigt wird, um gehen zu können, um loszulassen und um Abschied zu nehmen. Die Schwestern kommen nur, um nachzufragen, ansonsten haben wir alles auf das Notwendigste reduziert. Mein temporäres Bett ist auf der rechten Seite des Bettes des Mannes, genauso, wie wir auch Zuhause schlafen würden: ich am Fenster auf der rechten Seite, er auf der linken. Wir haben beide unsere Kopfkissen von Daheim mitgebracht. So ist das auch im Urlaub, wir sind ja jetzt in diesem Alter.

Urlaub. Fast könnte man sich vormachen, es sei hier ein etwas skurriles Hotelzimmer im Sanatoriumsstil oder eine Reha-Einrichtung, und kein Sterbezimmer. Aber das langsame und mühevolle Atemholen, die Sauerstoffzugabe erinnern auch bei geschlossenen Augen immer daran, das dies unsere letzte gemeinsame Reise ist. An deren Ende ich ihn alleine weiterreisen lassen muss und er mich.

Das ist nicht schön, und wäre ich auch nur einen Hauch weniger nüchtern veranlagt, fielen mir sicherlich noch einige Trauerredner-Metaphern ein. Aber in solchen Situationen ist alles ohnehin klar und überdeutlich und ein Takt, der stetig und unbestechlich weiterschlägt. Ohne Gnade.

Die einzige Gnade geben Medikamente. Ich danke der klassischen Medizin und der Pharmaforschung auf Knien dafür, dass sie es schaffen, das Gehen so zu erleichtern, dass alles in einem angenehmen Dämmerzustand erlebt werden kann, ganz ohne Schmerzen. Und natürlich mit guter Musik.

Der Mann hat mir gerade noch erklärt, wie sein superduper Abspielgerät mit HighRes-Funktion geht, damit ich sein musikalisches Erbe hören kann. Sie glauben nicht, wie viele Dateien in so ein kleines Gerät passen! Er lässt Sie übrigens schön grüßen, die Internetgemeinde, an der er nur periphär teilnahm, aber immer auch hier mitlas. Es ist wie Zuhause, er hört Musik, ich tippe und lese im Internet. Das ist unser Sein, im Moment, und war es wohl immer.

Es bleibt nur das Dasein, das da sein, das hier sein, bei ihm sein. Mehr ist nicht mehr. Nur das Gehen, das kommt noch.

Zeit und Struktur.

Viele Menschen wünschen sich ja mal eine Auszeit vom Job, von der Familie oder ganz generell von Verpflichtungen, die Ihnen das Leben vermeintlich auferlegt. Meine sechswöchige Auszeit vom Job neigt sich nun dem Ende entgegen. Sie ging schnell vorbei. Auf jeden Fall aber auch langsam genug, dass ich mich sehr auf meine neue Arbeit freue. Wie der Gentleman heute sagte: „Du brauchst Struktur.“

Die Struktur habe ich mir in den freien Wochen selbst geben müssen und rotierte zwischen Saubermachen, Essensterminen und Kochen hin und her, unterbrochen durch Balkonschickmacherei, viel Internet und Serienjunkiegucken und Mann bepusseln. Drei Mini-Urlaube waren auch drin, obwohl der Mann und ich es leider nicht nach Paris geschafft haben. Paris ist keine Stadt für diese Zeit, denn sie liebt keine Menschen, die schlecht zu Fuß sind.

Ich hatte mir eigentlich mehr Zeit nehmen wollen, um mit dem Mann einen schönen Sommer zu verleben. Aber das Leben spielt eben manchmal anders, und nun müssen wir uns eine neue Struktur überlegen. Eine, in der er sich gut aufgehoben fühlt, keinen Mangel und keine Schmerzen leidet und dennoch ein gutes Stück unabhängig bleiben kann und darf. Und eine Struktur, in der ich ohne schlechtes Gefühl morgens aus dem Haus gehen und mit Freude arbeiten kann. Und eine Struktur, in der unsere Liebe so ist und bleibt, wie sie es schon immer war.

Zeit und Struktur. Und Liebe. Was bleibt. Was verrinnt. Was geht.

Time in a bottle

If I could save time in a bottle
The first thing that I’d like to do
Is to save every day till eternity passes away
Just to spend them with you

If I could make days last forever
If words could make wishes come true
I’d save every day like a treasure and then
Again, I would spend them with you

But there never seems to be enough time
To do the things you want to do, once you find them
I’ve looked around enough to know
That you’re the one I want to go through time with

If I had a box just for wishes
And dreams that had never come true
The box would be empty, except for the memory of how
They were answered by you

But there never seems to be enough time
To do the things you want to do, once you find them
I’ve looked around enough to know
That you’re the one I want to go through time with

(Jim Croce, 1973)

 

Wir@Mauerfall.

Der Mann.
Am Abend sind die Kumpels und ich in die Wohnheimdisco in der Coppistraße gegangen, wie eigentlich immer. Feiern und was trinken, wie immer. Irgendwann kam der R. an: „Die Mauer ist übrigens auf, Jungs!“ Nee, ist klar. „R., du bist doch besoffen!“ Wir lachten, feierten noch ein bisschen und gingen dann schlafen, um für die Seminare am nächsten Tag fit zu sein.

Spannend wurde es erst am nächsten Tag. Die Nachrichten klangen irgendwie unglaubwürdig. Das kann doch nicht sein. Mauer offen, Grenzverkehr. Mit dem S. auf dem Weg zur Uni, in meinem von einem Verwandten geerbten, knallroten Trabi mit mattschwarzem Dach, auf den ich so stolz war. Kurze, schnelle Entscheidung, doch noch einem Umweg zum Checkpoint Charlie zu machen. Mal gucken, was da wirklich los ist. Wir sahen eine ziemlich lange Autoschlange. Als gelernter Ossi stellt man sich an Schlangen natürlich an. Außerdem wollten wir nur mal gucken. Zurück zur Uni können wir immer noch schnell, ist alles keine Entfernung in Ostberlin.

Die Zolltante: „Wollen Sie denn wieder zurückkommen aus Westberlin?“ Blöde Frage. „Ja, wollen wir!“ Und zack, waren wir im Westen.

Mit einem schnell geschenkten Stadtplan und dem Telefonbuch habe ich dann meinen Onkel ausfindig gemacht, der um diese Uhrzeit in seiner Kanzlei sein musste. Der fiel aus allen Wolken: „Bist du denn total verrückt, du kannst doch deine Eltern nicht im Stich lassen!“ Er hatte noch keine Nachrichten gehört und war völlig von der Rolle. Er, der ehemalige Fluchthelfer, der meine Tante mit einem Diplomatenwagen in den Westen geschmuggelt hatte, war fassungslos. Wir verabredeten uns für den Abend bei seinem Lieblingsitaliener und gingen noch mal auf den Kudamm. Dort trafen wir unseren Pharmakologie-Professor, bei dem wir jetzt eigentlich im Seminar sitzen sollten.

Wir haben dann noch Fotos gemacht, unter dem Straßenschild und gelacht: „Wir auf dem Kurfürstendamm.“ Und als Autoverrückte Studenten haben wir uns bei BMW die Modelle angeschaut und Probe gesessen.

Wir waren wie Touristen.

Die Frau.
17 Uhr. Donnerstag, mein Schwimmtag. Meine Mutter bringt D. und mich in den Nachbarort, wo im Schwimmbad Warmbadetag ist. Wir schwimmen unsere Stunde, quatschen noch ein bisschen am Beckenrand bis uns kalt wird. D. wird nach dem Abi erst einmal eine Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin machen, weil die Noten nicht für den Direkteinstieg ins Studium reichen werden. Das weiß sie schon. Ich weiß noch gar nichts. Meine Noten sind okay, aber ich habe keine Ahnung, was ich will. Nach dem Abi weiß ich es vielleicht, aber bis dahin ist noch ein halbes, dreiviertel Jahr. Und ich muss mich heute noch mal hinsetzen, um für die Halbjahresklausur in Bio, meinem ersten Leistungskurs zu lernen. Geschichte und Französisch, da geht auch noch ein bisschen was, obwohl ich nicht das Gefühl habe, dass unsere Lehrer sehr viel erwarten. In Kunst, meinem zweiten Leistungskurs*, ist ohnehin alles offen, da fragt keiner nach Orientierung und wirklichen Ergebnissen. Zeichnen kann ich, Kunstgeschichte und Interpretation, naja, geht irgendwie alles.

19.30 Uhr. Ich setze mich nach dem Abendessen an den Schreibtisch. Im Hintergrund laufen Nachrichten im alten Schwarzweiß-Fernseher, von Oma geerbt. Zwischen Texten zu Genetik und Nuklein-Basen horche ich auf. „Grenzöffnung“, höre ich. Ich setze mich vor den Fernseher. Wahnsinn, denke ich. Was ist das denn? Meine Eltern kommen rein. „Hast du auch…?“ „Ja. Komisch, gell?“ „Wir gehen jetzt trotzdem zum Tanzabend, bis später, ja?“ „Ja, bis dann.“

22.30 Uhr. Mein Freund ruft an. Eigentlich darf er das nicht. Er sitzt in seiner Kaserne im nordhessischen Schwarzenborn, ist zum Wehrdienst bei den Panzegrenadieren gelandet, bekommt aber häufig die Funk- und Fernmeldedienste, mit Telefonzugang. „Die Mauer ist offen“, sage ich, „Hast du das schon mitbekommen?“ Nein, sagt er, wir haben hier heute noch keine Nachrichten gesehen, da war eine Manöverübung, aber bist du sicher? „Ja“, sage ich, „Sie zeigen das im Fernsehen, da stehen Menschen auf der Mauer am Brandenburger Tor. Wahnsinn.“

23 Uhr. Ich gehe schlafen, nachdem meine Eltern gute Nacht gesagt haben. Ich denke ans Abi. Danach weiß ich vielleicht, was ich will.

*Ja, liebe Kinder, damals im Hessen der 80er Jahre war das noch möglich – Kunst Leistungskurs, unglaublich, nicht?

Partner.

Eigentlich wollte ich nie heiraten. Schlechtes häusliches Vorbild, Sie wissen schon. Aber dann traf ich den Mann und wollte eigentlich immer noch nicht heiraten. Bis er gefragt hat, dann habe ich mir das noch mal ganz schnell überlegt und die richtige Entscheidung getroffen. In guten, wie in schlechten Tagen, ganz profan und ohne großes Brimborium, so haben wir das gehalten und so halten wir das weiterhin.

Nun überwiegen seit einiger Zeit die schlechten Tage (ich berichtete). Und das, was für mich das Fundament einer jeden Beziehung und nicht nur Ehe bildet, schwankt. Wird unsicherer Grund, weil da etwas ist, das den einen in eine andere Haltung zwingt. Nicht nur sinnbildlich, denn der Mann sitzt im Rollstuhl und kann sich derzeit nur über kürzere Distanz mit Krücken vorwärts bewegen. Das ist in der dritten Etage ohne Aufzug eher so mittelpraktisch. Außerdem hindert es den Mann daran, selbstständig Auto zu fahren, vom Motorrad ganz zu schweigen. Alle Räder stehen still, weil der Krebs es will. Sie sehen, der Galgenhumor gewinnt dann und wann die Oberhand.

Etwas zwingt uns dazu, unsere Partnerschaft auf Augenhöhe, wie das so schön im Wirtschaftsdeutsch heißt, für das erste aufzugeben. Nicht nur, weil der Mann vorerst eine Etage tiefer vor mir auf der Straße rollt, wenn ich ihn nicht sogar schiebe. Nein, es geht auch um die Rollenverteilung. Er ist jetzt mein Schutzobjekt. Ich würde mich zwar sonst auch ohne zu Zögern vor ihn werfen, wenn es sein muss (muss aber nicht). Aber seitdem er gehandicapt ist – ob mit Krücken oder Rollstuhl – entwickele ich ein (möglicherweise übertriebenes) Beschützerbedürfnis.

Mich ärgert, wenn ein Hotel, das als barrierefrei gilt, seinen Rollstuhlaufzug nicht reparieren lässt, so dass ich den Mann in der Hofdurchfahrt „zwischenparken“ muss, um der Schwiegermutter behilflich zu sein. Das hat mich dazu gebracht, den ersten Beschwerdebrief meines Lebens zu schreiben. Und ich war noch sehr freundlich.

Mich macht wahnsinnig, dass auf einem Bahnhofknotenpunkt Berlins der Aufzug zum richtigen Gleis erst nach ewigem Suchen zu finden ist. Überhaupt: Barrierefreiheit. Mal ist sie perfekt, mal helfen andere Menschen, kleine Schwächen zu überwinden. Manchmal gibt es sie schlicht nicht. (Kleiner Exkurs: Man muss die Deutsche Bahn auch mal für ihren Mobilitätsservice für Reisende mit Handicap loben. Am Vortag abends die Hotline angerufen und am Folgetag vormittags eine Umsteigehilfe bekommen.)

Und mich bringen Menschen zur Weißglut, die Blicke werfen. Blicke, die der Mann möglicherweise nicht bemerkt, aber die mich in meiner Empfindlichkeit treffen. Ekel, Verachtung, Genervtheit – ich kann eine Menge in anderer Menschen Gesichter hineininterpretieren oder in ihnen lesen.

Ich muss mich zügeln, ihn nicht in ein Kind zu verwandeln. Ihm alles abzunehmen, ihn zu verteidigen gegen Angriffe, die es vermutlich oft gar nicht gibt. Ich möchte keine „Helicopter-Frau“ sein, eine, deren Mann Mittelpunkt ihres Daseins ist, krank oder nicht. Eine Balance finden, zwischen krank, gesund, gehend, rollend, schützend und loslassend, das ist jetzt die Aufgabe. So als Partner sollte das eigentlich gehen.

Oder?

P.S. An dieser Stelle sei das großartige Projekt http://wheelmap.org/ genannt.

 

Atlantik (Ost).

Am Meer kann ich gut sein. Gut schlafen, während die Brandung rauscht, im Hintergrund Kinderstimmen klingen, Möwengeschrei. Die Sonne wärmt, brennt mir die kleinen – guten – braunen Schatten ins Gesicht und die schlechten unter den Augen weg. Im Wasser durch die nächste Welle tauchen, kalt, kalt, kalt ist es! Aber ein bisschen was geht immer, wir gehen bis auf 15 Grad Celsius runter, keine Zuckerpüppchen. Kleine Kiessteinchen reiben unter den Sohlen, der Sand knirscht zwischen den Zähnen. Süßes Salzwasser auf den Lippen. Ich küsse den, der mir am besten gefiel, damals auf dem Campingplatz.

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15, 16 Jahre alt waren wir, er mit einem jungen, glatten Gesicht, einem Tennisspielerkörper und einer noch zarten Seele. Ich, unsicher, die Haare wieder wachsen lassen oder doch kinnlang, sitzt der Bikini? Am Tag spielen in der Brandung, spätabends Hand in Hand unter der Milchstraße. Siehst du, die Brecher leuchten im Mondschein, sagst du und es ist eine Ferienliebe, wie sie sein soll. Später schickst du mir Briefe mit Fotos, die dich in Schuluniform zeigen, da siehst du jünger aus als ich. Ich antworte mit Bildern in einem verboten kurzen Jeansrock. Was musste ich meine Mutter überzeugen, dass sie auf den Auslöser drückte! Deine Briefe sprechen von Liebe, ich sende verhaltenere Grüße zurück.

Längst ist der Sommer vorbei, der erste, der richtige Freund ist in mein Leben getreten. Irgendwann schreibst auch du nicht mehr, sie heißt Sandrine und sieht mir ähnlich. Im Jahr darauf, wir sehen uns zufällig wieder am Boule-Spielplatz, zögern wir kurz. Wir sind nicht mehr unschuldig. Aber der Atlantik ist derselbe, das Mondlicht, der Strand locken und wir wissen beide, dass wir uns im nächsten Jahr nicht mehr sehen werden.

Sand rieselt über mein Gesicht, ich wache langsam auf und bin fast 30 Jahre älter. Die Ostsee ist nicht der Atlantik. Aber ich habe gut geschlafen.

Sonnencreme.

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Absolventen des Jahres 1999
Benutzen Sie Sonnencreme,  

Ich stand neulich bei heißen 30° Celsius im Stau und im Radio lief ein lange nicht gehörtes Lied: „Sonnencreme“, die Vertonung einer Zeitungskolumne durch den Regisseur Baz Luhrmann. Ich sah in die anderen Fahrzeuge und die genervten Blicke der Fahrer, las ihre Gedanken. Nur fünf Minuten schneller! Kann der Typ im Audi vor mir nicht aufschließen? Wieso hat mich der Chef nicht dem Oberchef vorgestellt? Jetzt eine rauchen. Nur fünf Minuten schneller, ohne Stau, wären sie!

Die wahren Probleme in ihrem Leben sind meist Dinge an die Sie in ihren sorgenvollen Stunden nie denken würden.

Dinge die zum Beispiel an einem unbeschwerten Dienstagnachmittag um vier aus heiterem Himmel auf Sie niederprasseln.

Bei uns war es kein Dienstagnachmittag um vier. Ich kann mich nicht einmal an das genaue Datum erinnern, aber es war ein Spätherbst vor einigen Jahren und die Diagnose lautete Krebs. Der Mann war krank. Krebs und Krankheit als Synonym beinhaltet ja immer die Chance zur Heilung. Daran hielten wir uns, zumal der Krebs „der gutartige unter den bösartigen“ Arten war. Aber es änderte alles.

Vielleicht heiraten Sie,
vielleicht auch nicht,
vielleicht haben Sie Kinder,
vielleicht auch nicht,
vielleicht lassen Sie sich mit 40 scheiden,
vielleicht feiern Sie auch ihren 75sten Hochzeitstag mit einem Ententanz. 

Wir heirateten nach überstandener Behandlung, um unseren 75sten Hochzeitstag ganz sicher nicht mit einem Ententanz zu feiern. Wir sind beide eher Nichttänzer. Aber wir würden keine Kinder haben. Auch keine Adoptivkinder, denn lebensbedrohliche Krankheiten wie Krebs gelten erst nach fünfjähriger Karenzzeit als geheilt. Das hört sich ungerecht an, dient aber dem Kindeswohl. Und nach zwei Jahren war der Krebs ohnehin wieder da. Und nach weiteren acht Monaten wieder, diesmal schlimmer, akute Lebensbedrohung durch Komplikationen. Wieder eine lange, eine noch längere, noch einschneidendere Behandlung, wieder warten, Bestrahlung, warten, OP. Jetzt, seit einigen Tagen, erneut die Diagnose. Wieder alle Planungen in den Wind schießen. So ist das mit Krankheiten: sie lassen sich kaum in ein „normales“ Leben integrieren, man kann nicht mehr planen, Urlaube, Auszeiten, Kinder – alles wird temporär unplanbar oder sogar unmöglich. Aber was will man machen? Ich halte mich in solchen Zeiten an meinem Mantra „Isso. Aufstehen, weitermachen.“ fest. Was diese Zeit den Mann an Kraft gekostet haben mag, kann ich mir kaum vorstellen. Aber sie kostet auch den Gesunden neben dem Kranken viel, viel Kraft. Wie bei duldenden (leidenden) Partnern von Alkoholikern wird man zum Co-Kranken.

Haben Sie Freude an ihrem Körper,
nutzen Sie ihn soviel wie möglich.
Haben Sie keine Angst vor ihm oder davor,
was Andere über ihn denken,
er ist das beste Instrument, das Sie haben.

Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir auf unserem Instrument spielen, mit ihm spielen, wenn wir es nicht pflegen. Ich möchte nicht in esoterische Welten eintauchen, aber: Körper und Geist sind für mich eine Einheit, das eine erhebt sich nicht über das andere, mens sana in corpore sano, eben. Manchmal muss ich mich zwingen, meine Übergewichtskilos anzugehen, mich morgens aus dem Bett zu quälen, um meinen Körper ein bisschen zu spielen. Aber genauso muss ich darauf achten, dass meine Seele an eigenen Krankheiten oder denen anderer keinen Schaden nimmt. Ich kann mir helfen lassen. Ich kann mir Auszeiten nehmen. Ich bin nicht Mutter Teresa. Ich bin ein Mensch.

Machen Sie sich klar,
dass Freunde kommen und gehen,
aber pflegen Sie einige wertvolle Freundschaften, tun Sie alles um sich räumlich und menschlich nahe zu bleiben,
denn je älter Sie werden, desto mehr sind Sie auf Menschen angewiesen, die Sie schon als Kind kannten.

Der Mann und ich haben großes Glück mit unseren Freunden. Sie nehmen uns viel ab, viel auf und sind da, wenn es richtig, richtig Scheiße ist. Er kennt seine, ich die meinen, Freunde aus den Frühzeiten des Studiums, das ist heutzutage ja fast so viel wert wie Sandkastenfreundschaften. Unsere Freunde sind übrigens toll. Ihre, liebe Leser, bestimmt auch. Könnten Sie ihnen ja mal wieder sagen.

Abschließend ist es wie mit dem Luhrmannschen Text: Viele zusammenhanglose Teile ergeben ein Ganzes, ein Leben. Und das geht weiter. Zu zweit.

Aber das mit der Sonnencreme,
können Sie mir glauben.

 Wo er Recht hat, hat er Recht, der gute Baz. Ich fuhr an den ganzen unzufriedenen Staustehern vorbei nach Hause und war zufrieden.