Jahresendzeitfragebogen 2018.

Ist es denn zu fassen? Schon wieder ein Jahr vorüber! Falls Ihnen über den Jahreswechsel langweilig werden sollte, können Sie sich gerne durch meine vergangenen 15 Jahre Jahresbilanz lesen: 2017, 2016, 2015, 2014, 2013, 2012, 2010, 2009, 2008, 2007, 2006, 2005, 2004 und 2003.*
*2011 habe ich ausfallen lassen. Aus Gründen.

Hier aber erst einmal das Kurz-Resümee für dieses, fast vergangene, 2018.

Zugenommen oder abgenommen?
Abgenommen. Seit November fahre ich viel Rad und laufe fast täglich zwischen drei und fünf Kilometer. Und mit Laufen meine ich Joggen. Ich fing irgendwann einfach an und hörte nicht mehr auf, weil es Spaß machte, mir mein Viertel anzusehen. Jedes Mal entdeckte ich etwas Neues. Vor allem entdeckte ich, dass sich meine Kondition ganz erheblich verbesserte, ich fitter war, mich stärker fühlte. Ganz nebenbei nahm ich fast 10 Kilo ab, aber an Muskelmasse zu. Ich fühle mich besser und das ist relevant, nicht die Kilos mehr oder weniger.

Haare länger oder kürzer?
Länger, glatter (wegen der trockeneren Luft) und blonder (wegen der Friseurin und der vielen weißen Haare). Dafür wieder ohne Pony.

Kurzsichtiger oder weitsichtiger?
Blind wie eh und je. Allerdings habe ich wegen der trockenen Luft in Chile sehr mit trockenen Augen und reibenden Kontaktlinsen zu tun. Also sind meine Augentropfen immer in der Tasche dabei.

Mehr ausgegeben oder weniger?
Weniger als 2017 auf jeden Fall. Allerdings ist das Leben in Santiago teurer als in Berlin und mein Gehalt nicht eben üppig. Meine Buchhaltung wird es zeigen. Ach ja, da war ja noch etwas, was ich mir als guten Vorsatz für 2019 vorgenommen hatte… Buchhaltung…

Der hirnrissigste Plan?
Verrückt, sicher. Mutig, auch. Aber hirnrissig finde ich den Plan nicht, auf einen anderen Kontinent zu ziehen, in eine neue Sprache einzutauchen und einen völlig anderen Beruf mit viel Verantwortung zu ergreifen. Naja, vielleicht der Teil mit der Liebe, die einen dazu bringt solche Pläne auch umzusetzen. Liebe ist eben hirnrissig.

Die gefährlichste Unternehmung?
Mit dem Fahrrad in der Rush hour durch Santiago zu fahren. Mache ich nur noch, wenn es Fahrradspuren gibt. Busfahrer, my ass.

Das beeindruckenste Buch?
Ich schreibe immer noch an meinem eigenen Drehbuch. Das beeindruckt mich gerade mehr als alle anderen.

Der ergreifendste Film?
In diesem Jahr habe ich nicht eben viel ferngesehen. Wenn, dann Serien auf Netflix oder Dokus. Schön waren eigentlich alle Filme oder Serien, die ich gemeinsam mit dem (Ex-)Verehrer auf dem Sofa gesehen habe.

Das beste Theaterstück?
Viel Telenovela in diesem Jahr, aber kein Theaterstück in realiter. Ich war einmal bei einer Stand Up Comedy, von der ich nicht 10 Prozent verstanden habe. In Chile ist Theater ein elitäres und teures Vergnügen.

Das beste Lied?
Ich habe mir bei Spotify diverse Playlisten angelegt, die ich beim Joggen höre. Darunter ist auch ein Song, der sich mittlerweile zu meinen All time favorites gemausert hat, weil schön: „Quero ser feliz tamben“ der brasilianischen Band Natiruts. Googlen Sie mal, es lohnt sich und transportiert ganz gut mein momentanes Lebensgefühl.

Das schönste Konzert?
Ich war auf zwei Konzerten, beide mit dem (Ex-)Verehrer und gemeinsamen Freunden: Bronko Yotte, ein Rapper, der aber konzertös auftrat und mich erstaunlicherweise in seinen Bann zog. Seine Texte sind – sofern für mich verständlich – vielschichtig und sehr wortspielerisch. Das zweite Konzert: „Solo di Medina“. Ein Funk-Musiker mit ziemlich expliziten Texten, aber sehr tanzbarem Sound.

2018 zum ersten Mal getan?
Auf einen anderen Kontinent gezogen. Als Lehrerin gearbeitet. Ganz ohne wirklich nachzudenken, einem inneren Plan gefolgt, den ich noch nicht kannte.

2018 nach langer Zeit wieder getan?
Mich mit meinen Dämonen auseinandergesetzt. Die partielle Unfähigkeit, mit Nähe und Distanz bei Gefühlen umzugehen, hat mich mein ganzes Leben umgetrieben. Und es macht es nicht eben leichter.

Die meiste Zeit verbracht mit…?
Organisieren von Dingen. Visum, Arbeit, Wohnung, Administration, Sozialleben. Alles musste organisiert werden. Das ist des Expats Aufgabe im ersten halben, dreiviertel Jahr.

Die schönste Zeit verbracht mit…?
Dem Verehrer auf Reisen und auf dem Sofa, insgesamt. Das war sehr schön, ist aber Vergangenheit.

Vorherrschendes Gefühl 2018?
Ich habe noch viel zu lernen.

3 Dinge, auf die ich gut hätte verzichten mögen?
Einsame Stunden, in denen ich nicht wusste, wohin mit mir und meinen Dämonen. Unnötiger Streit. Eine Ablehnung zum Post Grade Titel.

Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Dass es sich lohnen würde, mit mir befreundet zu sein.

Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
Zeit am Krankenbett, obwohl ich bittere Flashbacks hatte.

Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Freundschaft, Vertrauen. Eine Schiebermütze.

Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat?
„Du bist ganz besonders in meinem Leben. Ich werde immer für dich da sein.“ 

Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?
„Ich bin da.“

2018 war mit 1 Wort…?
Lernprozess.

2019, gib mir Kraft.

Kofferpacken.

In meinen Koffer packe ich…

Das beliebte Spiel zum Gedächtnistraining spiele auch ich heute, denn ich muss mich schon sehr stark daran erinnern, was ich nach Deutschland mitnehmen muss oder möchte und was auch wieder mit zurück nach Chile kommen soll. Die Vorüberlegung muss ja immer sein, was ich mir hier fehlt. Neben den – hier sehr teuren – Kosmetika und Cremes, Winterkleidung, die ich in Deutschland ebenfalls deutlich günstiger und à la mode erstehen kann und einigen persönlichen Dingen muss noch das alte Laptop als Backup-Modell mit und Geschenke. Am liebsten würde ich meine liebsten Gemälde mitnehmen, meinen Schreibtisch, alle Bücher und meine beiden Lieblingssessel sowie den Kuhfellhocker. Eigentlich möchte ich mein altes Leben in Berlin in einen Koffer packen und mitnehmen. Denn ganz eigentlich fehlt mir hier gerade recht wenig (außer den Freunden und der Familie).

Und Liebe. Für die wäre in meinem Koffer immer Platz. Liebe ist das Einzige, was hier gerade fehlt.

Korkenknallen, revisited.

Manchmal ist es ja ganz gut, dass es Facebook gibt. Es erinnert mich an meine eigenen Erinnerungen. Heute vor einem Jahr ließen wir die Korken knallen und stießen auf unser frisch erworbenes Zertifikat als DaF-LehrerInnen an. Immerhin fast zwei Monate intensives Lernen, Lehren und viel Vor- und Nachbereitung lagen hinter uns, einer kleinen, zusammengewürfelten Gruppe, deren Teilnehmer ebenso zusammengewürfelte Lebensläufe vorzuweisen hatten. Darunter Germanisten, Journalisten, Sozialarbeiter, Theaterpädagogen und eben eine einzige BWLerin, nämlich ich. Wie sehr das Studium oder eine Lebensrichtung sozialisiert, wird besonders in solch kleinen Gruppen offensichtlich. Während die eine oder andere eher ausgleichende oder zurückhaltende Kritik am Unterricht der KollegInnen übte, gingen manche recht offensiv und / oder sachorientiert ans Werk, beleidigte Mienen inklusive. Ein gutes Lehrstück des pädagogischen Kritikübens, das auch ich zu meistern hatte. Von meinen MitarbeiterInnen bekam ich in internen Feedbackrunden nämlich durchaus zu hören: „Wir wünschen uns mehr Lob von dir!“

Aber ich bin ja #TeamlebenslangesLernen und heute beherrsche ich das Loben ganz gut. Denn nach einem Jahr im Thema und immerhin sieben Monaten an einer chilenischen Berufsschule kann ich ein vorsichtiges Fazit ziehen: es hat sich gelohnt. Der Aufwand, die Nerven, das Geld, der Mut, die Angst – alles. Ich bekomme viel Feedback, gebe Feedback, merke, dass es das ist, was ich die nächsten Jahre gern machen möchte. Wenn es geht, bis zur Rente (haha!). Als gelerntes Alphaweibchen kommt mir die zentrale Rolle in der Klasse ganz gelegen. Und mit dem nötigen, weiteren –  noch zu erlernenden – pädagogischen Rüstzeug hoffe ich, noch besser zu werden. Deshalb werde ich heute Abend die Korken erneut knallen lassen.

Auf weiteres lebenslanges Lernen (und Lehren).

WMDEDGT 12/18.

Der 5. eines jeden Monats ist Stichtag für das Projekt von  Frau Brüllen und die Form des monatlichen Tagebuchschreibens. 

Pünktlich um halb sieben wachte ich das erste Mal auf, weil draußen die Bomberos (Feuerwehr) vorbeijaulten. Ich habe keine Idee, ob sich die deutschen und chilenischen Feuerwehrzüge in Punkto Lautstärke tatsächlich unterscheiden. Aber gefühlt ist die chilenische Feuerwehr mit Düsenjets unterwegs, die Einem direkt das Trommelfell wegblasen. Ich nickte wieder ein, bis um kurz nach sieben der Wecker klingelte. Draußen war die Fortsetzung des gestrigen diesigen Regentages zu sehen und damit auch keine Andenkordilleren am Horizont, ein Anblick, über den ich mich jeden Tag aufs Neue freuen kann.

Ich las ein bisschen im Internet herum, bevor ich mich gegen halb acht aus dem Bett quälte. Der Tag sollte etwas mühsam beginnen, mir tat immer noch die rechte Schulter weh, etwas hatte sich verzogen. Anscheinend wird das Haus langsam morsch und die Türen beginnen, ihren Rahmen zu verlassen, so scheint es. Also kein morgendliches Joggen, zumal ich die Ahnung hatte, dass die monatlich wiederkehrenden Frauenbeschwerden heute anfangen würden. Ich duschte, zog mir eine Jeans und „Irgendwas“ (T-Shirt) an und schminkte mich äußerst unlustig für den bevorstehenden Chef-Termin. Vorher musste ich noch einige ebenfalls unlustige Telefonate führen. Warum man seinem Geld bei Verlagen immer hinterherrennen muss… Zahlungsmoral ist offenbar branchenimmanent verschieden.

Um halb elf warf ich mich in mein Auto und fuhr zur Berufsschule. Dort angekommen, holte ich mir erst einmal einen Kaffee im Lehrerzimmer. Dieser gehört zu den stärksten, die in Chile zu bekommen sind und das macht mich glücklich, denn der erste des Tages, noch daheim, hatte mich nicht wirklich wachbekommen können. Der Chef-Termin verlief wie immer ergebnisorientiert und pragmatisch. Das mag ich an meinem Boss: er ist nicht nur ein ausgezeichneter Pädagoge, sondern hat durch seinen ebenfalls recht bunten Lebenslauf ein Gespür für Mögliches, Machbares und die effektivste Form der Umsetzung. Ich erfuhr einige Neuigkeiten, die meine zukünftige Form des Unterrichtens auf das Angenehmste modifizieren werden und gemeinsam planten wir zwei wichtige Projekte vor, eines davon mit China-Bezug. In Hong Kong war ich ja auch noch nicht.

Gegen halb eins fuhr ich wieder in mein Home Office, wo ich die letzten Klausuren korrigierte, die Endnoten noch einmal überprüfte und mir ein schnelles Mittagessen von gestern aufwärmte. Danach musste ich zu DHL-Chile, um einen Umschlag an meine Vermieterin nach Spanien weiterzuleiten. Ein teures Vergnügen! Für sie, aber sie wird mit einer deutschen Forschungseinrichtung zusammenarbeiten und das freut mich. Sie ist eine sehr ehrgeizige Soziologin und je länger sie in Europa bleibt, desto besser für mich, denn ich würde gern bis mindestens Ende kommenden Jahres in ihrer Wohnung bleiben. Danach sehen wir weiter. Eigentumserwerb einer Wohnung oder eines Hauses nicht ausgeschlossen.

Um drei traf ich mich mit einer Freundin und deren Freund auf einen Kaffee. Wir plauderten ein wenig, sie erklärte mir etwas genauer, was es mit Chanukka auf sich hat und welche Gerichte sie für Morgen Abend vorbereiten würde. Ich bin zwar eingeladen, kann aber leider nicht, was sehr schade ist. Dafür planten wir ein wenig für Silvester vor. Auch hier: drei Einladungen habe ich, aber keine macht mich so wirklich an. Ihre Idee, einfach eine kleine Dachterrassenparty zu veranstalten und Wunderkerzen anzuzünden, finde ich sehr viel charmanter als alle anderen. Da in diesem Jahr kein Herzblatt in Sicht ist, mit dem ich wirklich gern ins Neue Jahr feiern möchte, ist es zwar eigentlich egal, aber so eine Party wäre sicher sehr nett.

Gegen fünf verabschiedete mich und stürzte mich ins Abenteuer Fahrradfahren im beginnenden Santiagoer Feierabendverkehr. Merke: Busfahrer haben offenbar noch nichts von den neuen Gesetzen zum Schutz und zur Wahrung des Abstands zu Radfahrern gehört. Das nächste Mal also unbedingt auf Nebenrouten ausweichen. Das ist mir dann doch einen Tick zu gefährlich. Glücklich Zuhause angekommen räumte ich ein wenig auf, hängte die Wäsche ab und chattete noch ein wenig mit dem (Ex-) Verehrer, mit dem nach einem Monat Funkstille nun wieder gesprochen wird. Es gab keinen konkreten, aber viele kleine Anlässe, bis ich schlussendlich die Reißleine zog und ihm sehr deutlich sagte: „Lass mich in Ruhe.“ Wir gehen vorsichtig an die Erneuerung unserer Freundschaft heran. Auch im Interesse unserer gemeinsamen Freunde, die in diesem Monat viel versucht hatten, uns einander wieder näher zu bringen.

Eigentlich hatte ich keine Lust auf Gesellschaft, aber wie so oft in diesen letzten zwei Jahren entschied ich mich spontan um. Die Eröffnung einer Bar ganz in der Nähe und einige Freunde lockten, sodass ich gegen viertel nach acht dort eintrudelte. Zu meiner Überraschung hatten sich mehr Bekannte eingefunden als gedacht (es war auch als Event der Online-Community Internations angekündigt) und es wurde überaus lustig. Nicht nur, dass mein venezolanischer Lieblingstänzer immer neue Salsa-Figuren mit mir probierte, nein, auch der, nun, nennen wir ihn einmal der Einfachheit halber berufsbezogen, „Knochenbrecher“* war anwesend und unterhielt mich mit Ironie und hintergründigen Anspielungen auf gemeinsam verbrachte Stunden. Gegen viertel nach eins und dreieinhalb schlüpfrige Anspielungen später verabschiedete ich mich und ging allein durch die leeren Straßen meines Viertels nach Hause und schlafen.

 

*in der weitergeführten Telenovela wird er seinen Platz finden, aber um von einer Episodenrolle in eine Nebenrolle zu gelangen, reicht es wohl nicht. Das Drehbuch lebt von Helden, Herz und Schmerz und da ist noch einiges offen.

 

 

WMDEDGT 11/18.

Ich bin einen ganzen Tag zu spät dran, denn der 5. eines jeden Monats ist Stichtag für das Projekt von  Frau Brüllen. Aber sei’s drum, wir sind ja hier am Ende der Welt und ich tue einfach mal so, als hätte ich das alles schon gestern getippt.

Mein Tag begann – wie so oft in der letzten Zeit – zwischen halb fünf und fünf Uhr morgens. Es ist nämlich irgendwie symptomatisch, dass ich um diese Uhrzeit aufwache, mich über das frühe Aufwachen ärgere und dieses eben auch so intensiv, dass ich nicht mehr einschlafen kann. Möglicherweise ein Vorgeschmack auf die Wechseljahre, da soll man ja Schlafstörungen entwickeln, aber noch ist mein Hormonstatus im grünen Bereich, sagte der Arzt des Vertrauens beim letzten Blutcheck. Wie dem auch sei: aufstehen musste ich ohnehin um sieben, dödelte aber noch ein wenig im Internet lesend herum, bis ich es um halb acht schließlich zur Morgenhygiene ins Bad schaffte. Ich wusch meine Haare und nach einem Blick aus dem Fenster auf den sonnenbeschienenen Balkon entschied ich: heute wird luftgetrocknet, Locken kommet!

Ich zog mich schnell an, knautschte etwas Arganöl ins Haar und setzte mich mit Kaffee und Marmeladentoast auf den Balkon. Dieser geht in Richtung Südost, was auf der anderen Erdhalbkugel angenehme Kühle im Sommer, aber eben auch nur eine knappe Stunde Sonne im Sommer morgens bedeutet. Ich sonnte mich ein wenig und spürte, wie sich meine sonst glattgeföhnten und gebügelten Haare in lustige Kringel und Wellen legen wollten. Bei knapp schulterlangem Haar besteht immer die Gefahr, dass daraus eine Trapezfrisur im Stil der jungen Madonna wird, deshalb band ich mir die Haare doch lieber zu einem Wuscheldutt zusammen, bevor ich um neun das Haus verließ.

Ich lief meine üblichen 950 Meter zur U-Bahn und machte mich auf den Weg zum Außenministerium. Dort wollte ich mein Diplomzeugnis – übersetzt und beglaubigt – gegenbeglaubigen lassen, um dieses dann wiederum der Universidad de Chile zur Anerkennung zu übergeben. In der Beglaubigungsstelle des Außenministeriums musste ich nur knapp fünf Minuten warten, was mich verwunderte, wollen doch derzeit sehr viele Venezolaner, Brasilianer und Kolumbianer ihre Zeugnisse beglaubigen lassen. Vielleicht war es die für südamerikanische Verhältnisse frühe Stunde, das lohnt sich hier, vor zehn läuft der gemeine Latino nicht auf. Jedenfalls lief mein Anliegen auf Grundeis: die Beglaubigungsstelle der deutschen Botschaft in Santiago hatte alles ordnungsgemäß beklebt und bestempelt – aber die Unterschrift fehlte! Das hatte die Mitarbeiterin glatt vergessen! Ohne Unterschrift keine Beglaubigung, beschied mir die freundliche Außenministeriumsmitarbeiterin und bat mich, einfach noch einmal vorbei zu kommen.

Ich begann, mit meiner inneren Axt auszuholen und gegen deutsche Botschaft zu schwingen, aber es nützte ja nichts. Mit etwas Glück würde ich es noch rechtzeitig vor Ende der Sprechzeiten in die Botschaft schaffen. Dachte ich. Geriet aber auf Abwege, denn auf dem Weg zur U-Bahn überlegte ich, es einfach mal auf gut Glück bei der Universidad de Chile zu versuchen und vielleicht auch ohne Unterschrift und Außenministeriumsbeglaubigung zur Titelanerkennung zu gelangen. Man weiß ja nie.

In der Universidad wusste man auch nicht, aber was man wusste: die Webseite war aufgrund von Wartungsarbeiten abgeschaltet, Dokumente für die Anerkennungsstelle konnten weder down- noch upgeloaded werden und überhaupt hatte man sich im dortigen Büro entschieden, das Arbeiten bis Ende Dezember deshalb einzustellen und keine neuen Anträge mehr anzunehmen. Was insofern etwas blöd ist, denn ich muss bis zum 23. November meinen anerkannten Titel für mein Post Graduate Studium vorlegen. Ohnehin, so beschied mir der freundliche Herr am Empfangstresen, sei mit einer Anerkennungszeit von sechs Monaten zu rechnen. Äh, ja. Meine innere Axt schwang gegen die Mauern der Universidad und möglicherweise stürzt das Gebäude bald ein.

Aber nun auf zur Botschaft, dachte ich, denn es war mittlerweile viertel nach zehn und um 12 schließt man dort auch die Pforten. Ich wollte aber ungern mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, denn auch hier weiß man nie. Also fuhr ich zurück nach Hause, stieg in mein Auto – es war nun kurz vor elf – und fuhr eilig die 15 Minuten bis zur Botschaft. Mit den Öffentlichen hätte das eine knappe Stunde gedauert, nur so als Anhaltspunkt. Nicht alles ist hier gut angebunden, aber immer noch besser als nichts. Ich parkte ganz in der Nähe auf dem Schulparkplatz meines Institutos und ging die Viertelstunde zu Fuß. Beachten Sie die Zeitplanung? Es war ganz genau halb zwölf mittags als ich in der Botschaft ankam. Leider konnte man mein Begehr heute aber nicht mehr entgegen nehmen, denn es hatte einen Systemfehler gegeben und die Computer mussten gewartet werden. Man beschied mir, ich solle doch Morgen wiederkommen. Mittlerweile war meine innere Axt stumpf geworden.

Ich fuhr also unverrichteter Dinge nach Hause und empfing noch eilig den Klempner, der die schlecht geglättete Silikonversiegelung rund um die Toilette erneuern sollte. Das hinterher präsentierte Ergebnis war wiederum nicht zufriedenstellend und ich zeigte ihm mittels Spülmittel und beherzt eingesetztem Zeigefinger, WIE ZUM TEUFEL MAN SILIKONFUGEN GLATT UND SAUBER HINBEKOMMT. Ich hatte auch nur ganz wenig schlechtes Gewissen, so klugscheißerisch unterwegs zu sein, aber – Himmel! Das ist Handwerkerbasiswissen! Die innere Axt hatte ich vor lauter Ärger vergessen.

Gegen 14 Uhr machte ich mich auf den Weg zur Bowlingbahn, um die Anzahlung für eine Reservierung zu leisten. Seit Neuestem war ich nämlich Eventorganisatorin für eine Expat-Community und für die binnen drei Stunden ausgebuchte Veranstaltung musste ich den Termin endgültig festmachen. Als ich um 15 Uhr nach Hause zurückkehrte, hatte ich einen Bärenhunger und aß Couscous mit Restthunfisch und Joghurt. Danach setzte mich mich an meine Unterrichtsvorbereitung für Morgen und machte eigene Hausaufgaben für den Spanischunterricht am Abend.

Dorthin brach ich um kurz vor sechs auf, lernte brav den Gebrauch von Plusquamperfekt und weiterer Vergangenheitsarten, um dann gegen halb neun wieder in der Wohnung zu sein. Ich chattete noch ein wenig mit Freunden und beschloss, nur noch ein bisschen Netflix zu schauen. Nichts Spannendes, derzeit, und so ging ich um elf ins Bett.

 

Wie der Oktober riecht.

Fräulein Read On hat beschrieben, wie ihr Oktober in Irland riecht und nach dem unsrigen gefragt. Wohl an.

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Mein Oktober riecht nach den Blüten des falschen Jasmins, der hier etliche Straßen säumt. Süß duften sie, nach Hoffnung auf einen schönen Frühling, nach Hoffnung auf Liebe, auf Leichtigkeit des Sommers, nach den schönen Dingen des Lebens. Aber es ist eben nicht der echte Jasmin und falsch ist manchmal auch die Hoffnung.

Der Oktober auf der Südhalbkugel riecht nach dem lauen Wind der Anden, der noch ein wenig die Feuchtigkeit des Winters in sich trägt. Er riecht nach dem Gin&Tonic der ersten Balkonabende mit Blick auf die Berge, nach dem Lachen neu gewonnener Freunde, nach dem Vermissen alter und nach dem Versprechen, das das Leben dir manchmal gibt: es ist alles genau so wie es sein soll.

Er riecht auch nach dem, das nicht so ist, wie es einst sein sollte. Nach dem Duft der Küsse, den vertrauten Morgenkaffees, der vietnamesischen Suppe, die wir uns teilten. Er riecht nach dem letzten Kuss, den wir uns gaben. „Wir haben so viel verloren. Ich liebe dich, immer“, sagte der Verehrer. Manchmal muss man verlieren. Manchmal muss man gehen. Manchmal trifft man sich zweimal im Leben. Manchmal nicht. So riecht der Oktober auch.

Mein Oktober riecht nach frisch gewaschener Wäsche, die auf dem Balkon trocknet, nach den bunten Farben der T-Shirts, die das Grau-in-Grau des Winters ersetzen. Er riecht nach dem dunkelroten Nagellack, jetzt kann man ja wieder die Füße zeigen oder doch jedenfalls bald. Er riecht nach den Wolken, die über die Stadt ziehen, das Meer ist nicht weit und sie zeigen in Richtung Pazifik.

Der Oktober riecht nach Papier und Schweiß, nach Korrekturstift und Tränen, denn die finalen Examen stehen an und die Studenten haben sich überschätzt. „Es ist zu viel, viel zu viel“, klagen sie, aber so riecht er eben, der Ernst des Lebens. In den Büros der Unternehmen stinkt es bisweilen schlimmer, sage ich mir. Der Oktober riecht nach der U-Bahn, die ich auf dem Weg zu den Behörden nehmen muss. Nach vielen Menschen, die diesen Weg jeden Tag machen. Er riecht nach Alltag.

Mein Oktober riecht nach dem Kaffee im Büro des Chefs, der dafür verantwortlich ist, dass ich so viele Behördengänge machen muss. Der Kaffee ist kein Pulverkaffee sondern frisch gemahlen, das gefällt ihm besser und mir auch. „Deine Arbeit gefällt mir, sieh zu, dass du alle Papiere beglaubigt bekommst, dann noch ein Jahr und du kannst dir die Jobs in aller Welt aussuchen, was ich für uns aber nicht hoffe“, sagt er. Der Oktober riecht nach einer Berufung, nach dem Beginn eines zweiten Berufslebens, dann eben aber mit offiziellem Titel.

Der Oktober riecht nach dem Blondiermittel, das Madlen auf einige Strähnen meines Haars aufträgt. Ich bin das erste Mal in meinem Leben ziemlich blond und es soll noch mehr werden, denn es sieht gut aus. Und die weißen Schläfen verschwinden in schmeichelnder Helle.

Ganz am Ende des Oktobers kriechen auch hier die Hexen, die Geister und die Toten hervor, sie haben gerade geduscht und fragen nach Süßem oder Sauren. Ich gebe Süßes und denke an den einen Geist, der mir dieses Leben hier ermöglicht hat. Danke, mein Liebster. Dieser Oktoberabschied ist nur für dich.

Körperlich.

In einem lateinamerikanischen Land zu leben, heißt nicht nur, seine gewohnte Komfortzone aufzugeben und menschliche Nähe in jeglicher Form passieren zu lassen. Das Sardinengefühl in den öffentlichen Verkehrsmitteln, die ohrenbetäubende Lautstärke aller Verkehrsmittel sowie ein gerüttelt Maß an körperlicher Anteilnahme bei familiären Erzählungen – alles das ist die verlangte Grundtoleranz für ein Leben hier. Geschenkt. Man gewöhnt sich schnell daran.

Es heißt auch, das Gefühl für den eigenen Körper zu überdenken. Eine Sache, an die ich mich nicht so schnell gewöhnen kann und über deren Verankerung und Folgen in der Gesellschaft ich noch ein wenig nachdenken muss. Frauen werden hier nämlich seit frühester Kindheit trainiert, sich über das Aussehen zu definieren. Nicht nur werden weiblichen Kleinstkindern Ohrlöcher gestochen (ja, das gibt es auch rund ums Mittelmeer, ich weiß, aber ich halte das für absolut schrecklich), werden die Schuluniformen immer noch streng nach Geschlechtern getrennt und die Röcke der Schulmädchen überaus kurz geschneidert. Es werden auch früh Make Up und Haare optimiert, bis dann nach der ersten oder zweiten Schwangerschaft in besser situierten Kreisen Fett abgesaugt und Brust aufgebaut und in weniger begünstigten dann exzessiv gesportelt und gleichzeitig gehungert wird. Weiße Haare gelten als Distinktionsmerkmal für Unterschicht, Falten ebenso.

Alles in allem hat eine Frau in Lateinamerika schön zu sein, jung und gerne auch mit einem für die üblichen schlanken Figuren übermäßig großem Steiß ausgestattet. Dass dieser nicht auf Bäumen wächst – klar. Die Narben verschwinden in der Gesäßfalte und das Silikon sitzt. Oder wie der venezolanische Freund meinte: „Bei uns machen die Frauen klar, dass der Mann für ihre dauerhafte Schönheit zu zahlen hat. Dafür bekommen sie die Kinder und betutteln ihn.“ Nun ja. Muss ich halt selbst zahlen.*

Meine eigene Körperlichkeit hat hier zumindest einen Schub in Richtung Fitness erhalten. Die Wege zu Fuß sind lang, drei bis vier Kilometer täglich keine Seltenheit, es gibt ein eigenes Fitnessstudio im Haus und der Swimming Pool wartet auf wärmere Temperaturen und mich. Außerdem habe ich so viel getanzt wie seit 15 Jahren nicht mehr. Meine europäische Hüfte tut zwar nach einer Tanznacht bisweilen heftig weh, aber von der vom Verehrer bekrittelten Steifheit ist nichts mehr zu merken.

Die #metoo – Bewegung ist hier allerdings auch angekommen, durchaus mit der Aussage, dass das Aussehen einer Frau unerheblich sei für ihren Wert und den Respekt, der ihr entgegen gebracht werden muss. Man darf gespannt sein, ob sich das Bild ändert.

*war ein Scherz

Phasen.

Vor Kurzem las ich einen Artikel über die sieben Phasen, die ein Expat – das Wort bevorzuge ich deutlich gegenüber dem viel endgültigeren Auswanderer – durchlebt: angefangen von der Euphorie des Anfangs über die ersten Alltagsenttäuschungen bis hin zum Moment, in dem erwogen wird, wieder zurück zu kehren in die (frühere) Heimat und der reverse Kulturschock, nachdem man tatsächlich wieder am alten Ort ist.

Mit einer israelischen Freundin, die exakt den gleichen Zeitraum in Chile ist wie ich, diskutierte ich darüber, in welcher Phase wir uns derzeit wohl befinden mögen. Sie, verbandelt mit einem Chilenen, ist derzeit in der Gründungsphase ihres eigenen Business und sehr euphorisch ob der vielen, relativ unbegrenzten Möglichkeiten, in diesem Land selbstständig zu sein und auch davon leben zu können. Ich, nunmehr endgültig dem Verehrer abgeschworen und in Flirts und Affärchen verwickelt und mit einem festen, sowie einigen Nebenjobs, finde mich in einem Alltag wieder, der genauso ist wie in Berlin. Nichts neues, nur halt am Ende der Welt. Enttäuscht worden bin ich bislang nicht, eher angenehm überrascht, zumindest, was das Leben im Allgemeinen betrifft. Die Enttäuschungen sind wie immer eher emotionaler Natur, aber das ist standortunabhängig.

Es ist durchaus seltsam: ich habe eine Stadt gegen eine andere getauscht, ein Land gegen ein anderes, die Sprache und ein soziales und berufliches Umfeld gewechselt. Man könnte sagen, wie ein Hemd, das zu eng oder unmodisch geworden war. Das neue fühlt sich gut an, ist unbefleckt, aber so ganz das Lieblingsstück ist es noch nicht geworden. Aber es passt, es ist dem Anlass angemessen. Also alles normal.

Keine Höhen, keine Tiefen. Die Freundin sagt: „Vermutlich bist du einfach phasenresistent. Oder du bist zu deutsch.“

Die innere Preußin lebt jetzt in Chile.

 

WMDEDGT 10/18.

Wie immer gehören die Kudos für dieses Projekt Frau Brüllen. 

Noch vor dem Weckerklingeln um halb acht wurde ich vom Piepen einer WhatsApp-Nachricht geweckt. Die Freundin in Berlin hatte einige wichtige Unterlagen in einem Hotel abgeben können, wo ein chilenischer Freund einer deutschen Freundin in Santiago derzeit wohnt und mir diese mitbringen wird. Ein wahrer Bandwurmsatz, aber genau so läuft das hier: kennste wen, kannste helfen. Und bevor meine – wichtigen – Unterlagen der internationalen und chilenischen Post anvertraut werden, traue ich doch lieber dem Freund einer Freundin. Das hat sich bereits zweimal bewährt und hoffentlich auch diesmal.

Ich stand recht zügig auf, um nach Morgenhygiene und Frühstück um 9 Uhr am Ess-/Schreibtisch zu sitzen und Telefonate mit Deutschlands Verlagen zu führen. Honorarforderungen hinterherzulaufen gehört definitiv nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, aber so verdient man eben seine Brötchen und bislang wurde immer gezahlt, wenn auch mit Verspätung. Danach machte ich mich an meine Buchhaltung. Seitdem ich in Chile lebe, ist es mir wichtiger als vorher zu wissen, woher mein Geld kommt und wohin es geht. Santiago ist unglaublich teuer, die Gehälter niedrig und hätte ich nicht meine Witwenpension, müsste ich hier ein ärmliches Dasein fristen. Aber auf das Geld achten möchte und muss ich trotzdem. Schließlich möchte ich weiterhin reisen können, wohin ich will.

Gegen halb elf rief der Architektenfreund der Vermieterin an. Es gibt ein kleines Wasserschadenproblem in der Wohnung unter der meinen, das bekannt ist und bereits zweimal behoben wurde. Nun sieht es – auch nach dem Einbau der neuen Duschwanne – wieder so aus, als ob da etwas langsam aber sicher durchsickert. Und wenn ich mir die bisherigen Leistungen der Klempner genauer betrachte, wundert mich das nicht. Silikon lässt sich bekanntlich am einfachsten und besten mit Spülmittel glattstreichen. Sonst gibt es mitunter unschöne Verwerfungen und kleine Löcher. Je nun. Der Architekt soll sich das mal genauer ansehen und ich bin sowieso vorerst außen vor. Aber so etwas wie Badaufstemmen bräuchte ich definitiv nicht.

Danach setzte ich mich ans Korrigieren der Klausuren zweier Deutschklassen bis um halb eins der Ex-Verehrer eine Wasserstandsmeldung zu seinem Krankenstand schrieb. Ach, es ist wie immer und überall auf der Welt: XY-Chromosomträger leiden ein wenig mehr. Und wie immer und überall auf der Welt ist auch Mansplaining so eine ewige Sache. Immerhin, gut kapiert hat er, wenn er diese Rolle übernimmt, und er entschuldigt sich dafür. Für einen Latino lernfähig, braver Junge.

Der Norweger fragte an, ob ich heute Abend zum Biergartenbesuch mitkäme. Natürlich! Schließlich ist Frühling und ein Bier in angenehmer (englischsprachiger) Gesellschaft ist etwas Feines. Ich bekam Hunger und wärmte den Rest der Couscous-Pampe von gestern auf. Kleiner Tipp: Lachs und Couscous ist eine okaye Notlösung. Thunfisch ist besser, Hühnchen perfekt.

Ich musste mich um 14 Uhr kurz zu einem Mittagsschläfchen hinlegen. Vorteil des Home Office Tags! Eine halbe Stunde später saß ich wieder am Schreibtisch, denn ich hatte für 17.15 einen Termin mit Rodolfo, dem Architekten ausgemacht, der sich das Badezimmerproblem genauer ansehen wollte.

Pünktlich um 17.30 stand er vor der Tür und begutachtete den Schaden. Schlimme Befürchtungen, nun muss die Versicherung möglicherweise einen Gutachter schicken, denn es geht um eine Garantieleistung des Einbaus. Das Bad wurde vor vier Wochen renoviert… Noch während wir über Versicherungen sprachen, piepste mein Handy und später las ich endlich wieder gute Nachrichten von den drei auf der Welt verstreuten Freundinnen, mit denen ich im vergangenen Jahr eine wunderbare Zeit in Buenos Aires verbringen durfte. Die aus Syrien Geflüchtete konnte endlich ihre geliebte Schwester in Damaskus besuchen, engagiert sich nun auch in Argentinien in einer Stiftung zur Brustkrebs-Aufklärung und läuft seit einiger Zeit. Die Spanierin hat Bestrahlungen und Medikation gut überstanden und guckt gerade nach Flügen für Ende Oktober nach BA. Und die Inderin hat sich nach etlichen Jahren aus einer destruktiven Beziehung gewunden und beginnt ein neues Leben. Wir haben uns nun verabredet.

Später ging ich mit dem Norweger und einigen Bekannten ein Bier trinken und noch viel später auf eine Internations-Party in einem Club über den Dächern Santiagos. Ich tanzte mit N. aus Venezuela Salsa und Bachata wie schon auf einigen Party zuvor, sah den Caballero wieder, grüßte ihn höflich aus der Distanz und bestellte mir gegen halb zwei ein Uber-Taxi nach Hause, um wie ein Stein ins Bett zu fallen.

Stolz.

Eigenlob stinkt, sagte meine Mutter immer, wenn ich begann, ein wenig meine eigenen Qualitäten zu feiern. Und erstickte damit schon im Keim ein Gutteil gesundes Selbstwertgefühl. Denn: warum nicht einmal stolz sein auf Geschafftes, auf das, was einen liebens- und begehrenswert macht, vielleicht auch zu einem besseren Menschen? Oder doch zumindest stolz sein darauf, aus einer Situation das Beste gemacht zu und etwas gelernt zu haben?

Wie ist das bei Ihnen? Auf was sind oder waren Sie heute oder in den vergangenen fünf Tagen stolz? Erzählen Sie mir davon! Hier als Appetizer meine persönlichen Top 5:

  1. Mir nach einer blöden Phase des Fremdelns mit Land, Kultur und Leuten wieder bewusst geworden wie toll das alles doch ist! Ich lebe seit sehr langer Zeit erneut in einem fremden Land, habe mich durchgebissen und mit viel Energie das erreicht, von dem ich vor einem Jahr nur sehr vage wusste, dass es mein Leben auf den Kopf stellen würde. Ich bin toll, weil ich das gemacht habe.
  2. Ich bin toll, weil ich mutig bin. Ich habe ganz alleine eine siebenmonatige Reise rund um die Welt gemacht. Ich bin über Schotterstraßen Patagoniens gefahren, habe einen Reifenwechsel im Nieselregen in der sprichwörtlichen Pampa gemacht und bin nicht unter die Räder gekommen, weil ich nicht nur mutig, sondern auch vorsichtig und lebenserfahren bin. Ich bin auch mutig, weil ich – siehe unter 1. – mit Ende 40 nochmal ein anderes Leben probiere.
  3. Es war mühsam, aber es hat sich gelohnt: ich bin auch stolz darauf, dass ich nach einer intensiven Kompaktausbildung in der Lage bin, Anderen etwas beizubringen. Und noch viel mehr, sie zu motivieren, sich selbst eine neue Welt zu erschließen. Ihnen ein bisschen Eigenstolz zu geben, dass sie alles schaffen können, wenn sie wollen. Ich bin stolz darauf, dass meine Arbeit Früchte trägt. Mehr als alle meine Chefposten vorher macht mich so etwas stolz. Ich kann etwas weitergeben.
  4. Einige Dinge, auf die ich nicht stolz bin, gehören der Vergangenheit an. Ich habe den Verehrer sehr verletzt. Sowohl sein Latino-Ego als auch sein Herz waren und sind noch geknickt. Aber er hat mich ebenfalls sehr verletzt und es war an der Zeit, aus einer toxisch werdenden Beziehung auszubrechen. Es ist schwierig, gerade und besonders mit einem Latino, aber wir haben versucht, ob wir Freunde sein und bleiben können. Ein Versuch geht oft einher mit der Erkenntnis, wann es aufzugeben gilt. Man kann aber daran wachsen und seine eigenen Grenzen ebenso erkennen wie die des anderen. Ein Versuch kann ebenso stolz machen wie ein Erfolg.
  5. Ich bin stolz darauf, mein Leben genau so zu leben und zu gestalten, wie ich es möchte. Das ist meine ganz persönliche, mitunter auch sehr egoistische, Freiheit, die mich zu der macht, die ich immer sein wollte.