Knock out.

Und am späten Sonntagabend hatte es mich dann erwischt. Ich lag schon sehr, sehr müde von einem anstrengenden und frustrierenden Theaterprobenwochenende, einer sehr anstrengenden Arbeits- und Ereigniswoche und allgemeiner Befindlichkeit (ich wäre dann doch langsam dankbar für die Menopause) im Bett und sah eine Netflix-Doku. Bis, ja, bis urplötzlich der Brechreiz anfing. Und nicht mehr aufhörte. Gefolgt von ebensolchem Durchfall. Die ganze Nacht rannte ich abwechselnd für die eine oder andere entleibungsfähige Aktivität ins Bad. Um halb sieben Uhr morgens entschied ich mich: Nein, es geht heute nicht. Ich sprach der Chefin eine Nachricht auf WA, dass ich zumindest am Vormittag nicht in die Redaktion kommen könne. Im Verlauf des Morgens und Vormittags wurde klar: es geht nicht mal am Nachmittag. ich war völlig ausgeknockt. Kein Hungergefühl, kein Durst, kein Wachwerden. Ich schlief immer wieder ein und war schlicht zu schwach für etwas anderes. Ich glaube, das letzte Mal war ich in einer derartigen Verfassung, als ich eine Grippe hatte und das muss so ungefähr 20 Jahre her sein. Erst gegen Abend hatte ich langsam wieder Hunger und Durst. Einen halben Teller Spaghetti mit Spinatsauce und viel Wasser und Kamillentee (igitt) sorgten zumindest dafür, dass ich an den kommenden Tag denken konnte. Auch, wenn gegen halb acht Uhr abends das Fieber begann: ich wusste, dass es jetzt vorüber war. Fieber ist bei mir immer kurz und hoch und so glühte ich ein, zwei Stündchen vor mich hin, schwitzte noch ein wenig mehr Wasser aus, als hätte sein müssen und schlief bis zur gewohnten Aufwachzeit um zwanzig nach sieben durch.

Den Tag dann wie gewohnt arbeitend und mit vielen Dingen beschäftigt verbracht. Immer noch leichtes Kopfweh im Hintergrund, aber handhabbar. Von der Kollegin gehört, dass es ein Rotavirus sei, der da gerade umginge. Aha, dann hätten wir das wohl auch geklärt. Das nächste Mal suche ich mir aber was aus, das einen hübscheren Namen trägt.

Abgrund.

Ein Land bewegt sich am Abgrund. Solch eine Metapher wollte man sicherlich immer mal schreiben, wenn man Überschriften texten muss. Nur, wenn man mittendrin ist, dann macht es deutlich weniger Spaß nach schönen Worten zu suchen. Dann möchte man die Wahrheit schreiben oder vielmehr schreien. Dass die Tränengaswolken bis an die Straßenecke reichen, an der dein Büro liegt. Dass Gummigeschosse auf den Straßen zu finden sind, während ihre Empfänger sich nicht behandeln lassen können, weil es keine Versorgung mehr nach Beginn der Ausgangssperre gibt. Dass Ausgangssperre sich viel harmloser anhört als sie ist. Ein Land in Geiselhaft. Dass diese Gesellschaft tief gespalten ist. In jene, denen es (noch) gut geht und jene, denen es nie gut ging. Dass die öffentlichen Schulen eine Katastrophe sind. Dass die Viertel, in denen ich unterrichte, mit der Realität des Landes so viel zu tun haben wie eine Bockwurst mit einer Kanone. Dass sich Kollegen, Freunde und Bekannte verschanzen und anfangen einander aufzulauern. Dass die Menschen, mit denen ich täglich zu tun habe, sehr wenig von der Realität in diesem Land wissen (wollen). Dass ich froh bin, andere Freunde zu haben. Dass ich mich durchbeißen werde.

Über viele Dinge könnte ich schreiben. Aber ich vergrabe das alles erst einmal in mir. Und hole es wieder heraus, wenn ich sehe, dass der Abgrund nicht mehr ganz so nah ist.

Backup.

Manchmal hat man es ja nicht in der Hand. Ein Klick und schon verschluckt sich das System und alles scheint perdü. Nun hat es bald ein Dreivierteljahr kein Wortschnittchen gegeben (jedenfalls nicht auf diesem Kanal). Dank des großartigen Sven K. wurde aber alles gefixt und nun darf wieder geschrieben werden.

Es ist ja so wichtig, ein gutes Backup zu haben. Sag ich jetzt mal so als Resümee der vergangenen Monate. Und zwar nicht nur im technologischen Sinne. Diese letzten Monate haben mir viel gegeben, mich viel lernen lassen und mir etwas genommen, was ich eigentlich erst durch meine Reise gefunden hatte. Ja, ich spreche von Vertrauen. Das Vertrauen in Menschen. Das Vertrauen, dass mich niemand missbraucht, betrügt oder mir etwas Böses will, sei es, dass er einfach nur dumm oder aber halt böswillig ist.

Man hat es ja nicht in der Hand, wie andere mit einem Vertrauensvorschuss umgehen. Letztlich bin ich mit einem blauen Auge herausgekommen. Und ich halte es weiterhin damit, dass ich mein Ideal von Ehrlichkeit und Vertrauen hochhalte. Aber halt nicht mehr für jeden. Pech gehabt. Mich gibt’s dann eben nur noch in kleinen Dosen oder gar nicht mehr.

Dafür habe ich ein gutes Backup. Freundinnen und Freunde, die mir auch mal die unschöne Wahrheit ins Gesicht gesagt haben. Mich gehalten haben, wenn ich nur noch kopfschüttelnd an ihrem Tisch saß und mir die Worte fehlten. Die sich mit mir besoffen haben und einfach sagten: Komm, ich habe uns am Wochenende ein Spa gebucht, du musst hier mal raus. Die mir wertvolle Kontakte zu Rechtsanwälten, Ärzten und anderen vertrauenswürdigen Dienstleistern vermittelt haben. Schön, dass es euch gibt.

Sommerzeit.

Gerade sind es nur vier Stunden Zeitverschiebung zu Deutschland, bis zum 30. März, dann werden es fünf sein und ab April für drei Monate sechs. Man steckt ja nicht drin, aber es wäre schön, wenn es bei vier Stunden bliebe, das macht vieles angenehmer.

Sowieso ist mir Deutschland so weit weg im Moment. Hier ist es Sommer, sehr warm, man lebt draußen, sucht Schatten, trinkt kühle Getränke im Biergarten und lobt ganz allgemein, dass es hier in Santiago keine Mücken gibt. Jedenfalls keine, die sich bislang besonders auf mich konzentriert hätten. Ich bin offenbar nicht exotisch genug, sie verschmähen mich. Sehr lobenswert.

Die Dinge ordnen sich. Es fehlen noch einige administrative Prozesse, dann kann ich hier weiter ruhig leben und arbeiten. Was es für Ausländer bedeutet, in einer fremden Kultur Behördensprech zu verstehen, wird mir gerade erst bewusst und ich habe Hochachtung vor jeden, der dies in Deutschland schafft und sich durch die Mühlen der Bürokratie kämpft (beinahe hätte ich Demokratie geschrieben – Freud, bist du’s?).

Es sind einige Menschen aus meinem Leben gefallen. Ganz unbemerkt und leise. Vielleicht macht es die Entfernung, die manchmal auch nur aus ein paar Kilometern aber essentiellen Unterschieden bestehen kann. Vielleicht aber auch mein derzeitiges Leben mit fröhlichen Menschen aus aller Herren Länder, die jedes Treffen zu einem Lachkonzert machen können. „Da haben sich ja welche gefunden“, sagte letztens eine Freundin und sie hat wohl Recht. Vom Verlieren und Finden der Freundschaft, so könnte wohl das Motto dieses Sommers lauten.

Der Caballero ist wieder aufgetaucht. „Verlieb dich nicht in mich, tu’s nicht, es ist für nichts Gutes“, sagte ich zu ihm. Ich kläre die Risiken und Nebenwirkungen gern vorher ab. Da bin ich sehr deutsch. Die winzigkleine Latina in mir wartet auf das große Feuerwerk der Gefühle mit einem anderen, dem Richtigen.

Das Warten auf das Richtige. Auch das richtige Haus, die richtige Wohnung wird zu mir kommen.

Jahresendzeitfragebogen 2018.

Ist es denn zu fassen? Schon wieder ein Jahr vorüber! Falls Ihnen über den Jahreswechsel langweilig werden sollte, können Sie sich gerne durch meine vergangenen 15 Jahre Jahresbilanz lesen: 2017, 2016, 2015, 2014, 2013, 2012, 2010, 2009, 2008, 2007, 2006, 2005, 2004 und 2003.*
*2011 habe ich ausfallen lassen. Aus Gründen.

Hier aber erst einmal das Kurz-Resümee für dieses, fast vergangene, 2018.

Zugenommen oder abgenommen?
Abgenommen. Seit November fahre ich viel Rad und laufe fast täglich zwischen drei und fünf Kilometer. Und mit Laufen meine ich Joggen. Ich fing irgendwann einfach an und hörte nicht mehr auf, weil es Spaß machte, mir mein Viertel anzusehen. Jedes Mal entdeckte ich etwas Neues. Vor allem entdeckte ich, dass sich meine Kondition ganz erheblich verbesserte, ich fitter war, mich stärker fühlte. Ganz nebenbei nahm ich fast 10 Kilo ab, aber an Muskelmasse zu. Ich fühle mich besser und das ist relevant, nicht die Kilos mehr oder weniger.

Haare länger oder kürzer?
Länger, glatter (wegen der trockeneren Luft) und blonder (wegen der Friseurin und der vielen weißen Haare). Dafür wieder ohne Pony.

Kurzsichtiger oder weitsichtiger?
Blind wie eh und je. Allerdings habe ich wegen der trockenen Luft in Chile sehr mit trockenen Augen und reibenden Kontaktlinsen zu tun. Also sind meine Augentropfen immer in der Tasche dabei.

Mehr ausgegeben oder weniger?
Weniger als 2017 auf jeden Fall. Allerdings ist das Leben in Santiago teurer als in Berlin und mein Gehalt nicht eben üppig. Meine Buchhaltung wird es zeigen. Ach ja, da war ja noch etwas, was ich mir als guten Vorsatz für 2019 vorgenommen hatte… Buchhaltung…

Der hirnrissigste Plan?
Verrückt, sicher. Mutig, auch. Aber hirnrissig finde ich den Plan nicht, auf einen anderen Kontinent zu ziehen, in eine neue Sprache einzutauchen und einen völlig anderen Beruf mit viel Verantwortung zu ergreifen. Naja, vielleicht der Teil mit der Liebe, die einen dazu bringt solche Pläne auch umzusetzen. Liebe ist eben hirnrissig.

Die gefährlichste Unternehmung?
Mit dem Fahrrad in der Rush hour durch Santiago zu fahren. Mache ich nur noch, wenn es Fahrradspuren gibt. Busfahrer, my ass.

Das beeindruckenste Buch?
Ich schreibe immer noch an meinem eigenen Drehbuch. Das beeindruckt mich gerade mehr als alle anderen.

Der ergreifendste Film?
In diesem Jahr habe ich nicht eben viel ferngesehen. Wenn, dann Serien auf Netflix oder Dokus. Schön waren eigentlich alle Filme oder Serien, die ich gemeinsam mit dem (Ex-)Verehrer auf dem Sofa gesehen habe.

Das beste Theaterstück?
Viel Telenovela in diesem Jahr, aber kein Theaterstück in realiter. Ich war einmal bei einer Stand Up Comedy, von der ich nicht 10 Prozent verstanden habe. In Chile ist Theater ein elitäres und teures Vergnügen.

Das beste Lied?
Ich habe mir bei Spotify diverse Playlisten angelegt, die ich beim Joggen höre. Darunter ist auch ein Song, der sich mittlerweile zu meinen All time favorites gemausert hat, weil schön: „Quero ser feliz tamben“ der brasilianischen Band Natiruts. Googlen Sie mal, es lohnt sich und transportiert ganz gut mein momentanes Lebensgefühl.

Das schönste Konzert?
Ich war auf zwei Konzerten, beide mit dem (Ex-)Verehrer und gemeinsamen Freunden: Bronko Yotte, ein Rapper, der aber konzertös auftrat und mich erstaunlicherweise in seinen Bann zog. Seine Texte sind – sofern für mich verständlich – vielschichtig und sehr wortspielerisch. Das zweite Konzert: „Solo di Medina“. Ein Funk-Musiker mit ziemlich expliziten Texten, aber sehr tanzbarem Sound.

2018 zum ersten Mal getan?
Auf einen anderen Kontinent gezogen. Als Lehrerin gearbeitet. Ganz ohne wirklich nachzudenken, einem inneren Plan gefolgt, den ich noch nicht kannte.

2018 nach langer Zeit wieder getan?
Mich mit meinen Dämonen auseinandergesetzt. Die partielle Unfähigkeit, mit Nähe und Distanz bei Gefühlen umzugehen, hat mich mein ganzes Leben umgetrieben. Und es macht es nicht eben leichter.

Die meiste Zeit verbracht mit…?
Organisieren von Dingen. Visum, Arbeit, Wohnung, Administration, Sozialleben. Alles musste organisiert werden. Das ist des Expats Aufgabe im ersten halben, dreiviertel Jahr.

Die schönste Zeit verbracht mit…?
Dem Verehrer auf Reisen und auf dem Sofa, insgesamt. Das war sehr schön, ist aber Vergangenheit.

Vorherrschendes Gefühl 2018?
Ich habe noch viel zu lernen.

3 Dinge, auf die ich gut hätte verzichten mögen?
Einsame Stunden, in denen ich nicht wusste, wohin mit mir und meinen Dämonen. Unnötiger Streit. Eine Ablehnung zum Post Grade Titel.

Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Dass es sich lohnen würde, mit mir befreundet zu sein.

Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
Zeit am Krankenbett, obwohl ich bittere Flashbacks hatte.

Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Freundschaft, Vertrauen. Eine Schiebermütze.

Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat?
„Du bist ganz besonders in meinem Leben. Ich werde immer für dich da sein.“ 

Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?
„Ich bin da.“

2018 war mit 1 Wort…?
Lernprozess.

2019, gib mir Kraft.

Kofferpacken.

In meinen Koffer packe ich…

Das beliebte Spiel zum Gedächtnistraining spiele auch ich heute, denn ich muss mich schon sehr stark daran erinnern, was ich nach Deutschland mitnehmen muss oder möchte und was auch wieder mit zurück nach Chile kommen soll. Die Vorüberlegung muss ja immer sein, was ich mir hier fehlt. Neben den – hier sehr teuren – Kosmetika und Cremes, Winterkleidung, die ich in Deutschland ebenfalls deutlich günstiger und à la mode erstehen kann und einigen persönlichen Dingen muss noch das alte Laptop als Backup-Modell mit und Geschenke. Am liebsten würde ich meine liebsten Gemälde mitnehmen, meinen Schreibtisch, alle Bücher und meine beiden Lieblingssessel sowie den Kuhfellhocker. Eigentlich möchte ich mein altes Leben in Berlin in einen Koffer packen und mitnehmen. Denn ganz eigentlich fehlt mir hier gerade recht wenig (außer den Freunden und der Familie).

Und Liebe. Für die wäre in meinem Koffer immer Platz. Liebe ist das Einzige, was hier gerade fehlt.

Korkenknallen, revisited.

Manchmal ist es ja ganz gut, dass es Facebook gibt. Es erinnert mich an meine eigenen Erinnerungen. Heute vor einem Jahr ließen wir die Korken knallen und stießen auf unser frisch erworbenes Zertifikat als DaF-LehrerInnen an. Immerhin fast zwei Monate intensives Lernen, Lehren und viel Vor- und Nachbereitung lagen hinter uns, einer kleinen, zusammengewürfelten Gruppe, deren Teilnehmer ebenso zusammengewürfelte Lebensläufe vorzuweisen hatten. Darunter Germanisten, Journalisten, Sozialarbeiter, Theaterpädagogen und eben eine einzige BWLerin, nämlich ich. Wie sehr das Studium oder eine Lebensrichtung sozialisiert, wird besonders in solch kleinen Gruppen offensichtlich. Während die eine oder andere eher ausgleichende oder zurückhaltende Kritik am Unterricht der KollegInnen übte, gingen manche recht offensiv und / oder sachorientiert ans Werk, beleidigte Mienen inklusive. Ein gutes Lehrstück des pädagogischen Kritikübens, das auch ich zu meistern hatte. Von meinen MitarbeiterInnen bekam ich in internen Feedbackrunden nämlich durchaus zu hören: „Wir wünschen uns mehr Lob von dir!“

Aber ich bin ja #TeamlebenslangesLernen und heute beherrsche ich das Loben ganz gut. Denn nach einem Jahr im Thema und immerhin sieben Monaten an einer chilenischen Berufsschule kann ich ein vorsichtiges Fazit ziehen: es hat sich gelohnt. Der Aufwand, die Nerven, das Geld, der Mut, die Angst – alles. Ich bekomme viel Feedback, gebe Feedback, merke, dass es das ist, was ich die nächsten Jahre gern machen möchte. Wenn es geht, bis zur Rente (haha!). Als gelerntes Alphaweibchen kommt mir die zentrale Rolle in der Klasse ganz gelegen. Und mit dem nötigen, weiteren –  noch zu erlernenden – pädagogischen Rüstzeug hoffe ich, noch besser zu werden. Deshalb werde ich heute Abend die Korken erneut knallen lassen.

Auf weiteres lebenslanges Lernen (und Lehren).

WMDEDGT 12/18.

Der 5. eines jeden Monats ist Stichtag für das Projekt von  Frau Brüllen und die Form des monatlichen Tagebuchschreibens. 

Pünktlich um halb sieben wachte ich das erste Mal auf, weil draußen die Bomberos (Feuerwehr) vorbeijaulten. Ich habe keine Idee, ob sich die deutschen und chilenischen Feuerwehrzüge in Punkto Lautstärke tatsächlich unterscheiden. Aber gefühlt ist die chilenische Feuerwehr mit Düsenjets unterwegs, die Einem direkt das Trommelfell wegblasen. Ich nickte wieder ein, bis um kurz nach sieben der Wecker klingelte. Draußen war die Fortsetzung des gestrigen diesigen Regentages zu sehen und damit auch keine Andenkordilleren am Horizont, ein Anblick, über den ich mich jeden Tag aufs Neue freuen kann.

Ich las ein bisschen im Internet herum, bevor ich mich gegen halb acht aus dem Bett quälte. Der Tag sollte etwas mühsam beginnen, mir tat immer noch die rechte Schulter weh, etwas hatte sich verzogen. Anscheinend wird das Haus langsam morsch und die Türen beginnen, ihren Rahmen zu verlassen, so scheint es. Also kein morgendliches Joggen, zumal ich die Ahnung hatte, dass die monatlich wiederkehrenden Frauenbeschwerden heute anfangen würden. Ich duschte, zog mir eine Jeans und „Irgendwas“ (T-Shirt) an und schminkte mich äußerst unlustig für den bevorstehenden Chef-Termin. Vorher musste ich noch einige ebenfalls unlustige Telefonate führen. Warum man seinem Geld bei Verlagen immer hinterherrennen muss… Zahlungsmoral ist offenbar branchenimmanent verschieden.

Um halb elf warf ich mich in mein Auto und fuhr zur Berufsschule. Dort angekommen, holte ich mir erst einmal einen Kaffee im Lehrerzimmer. Dieser gehört zu den stärksten, die in Chile zu bekommen sind und das macht mich glücklich, denn der erste des Tages, noch daheim, hatte mich nicht wirklich wachbekommen können. Der Chef-Termin verlief wie immer ergebnisorientiert und pragmatisch. Das mag ich an meinem Boss: er ist nicht nur ein ausgezeichneter Pädagoge, sondern hat durch seinen ebenfalls recht bunten Lebenslauf ein Gespür für Mögliches, Machbares und die effektivste Form der Umsetzung. Ich erfuhr einige Neuigkeiten, die meine zukünftige Form des Unterrichtens auf das Angenehmste modifizieren werden und gemeinsam planten wir zwei wichtige Projekte vor, eines davon mit China-Bezug. In Hong Kong war ich ja auch noch nicht.

Gegen halb eins fuhr ich wieder in mein Home Office, wo ich die letzten Klausuren korrigierte, die Endnoten noch einmal überprüfte und mir ein schnelles Mittagessen von gestern aufwärmte. Danach musste ich zu DHL-Chile, um einen Umschlag an meine Vermieterin nach Spanien weiterzuleiten. Ein teures Vergnügen! Für sie, aber sie wird mit einer deutschen Forschungseinrichtung zusammenarbeiten und das freut mich. Sie ist eine sehr ehrgeizige Soziologin und je länger sie in Europa bleibt, desto besser für mich, denn ich würde gern bis mindestens Ende kommenden Jahres in ihrer Wohnung bleiben. Danach sehen wir weiter. Eigentumserwerb einer Wohnung oder eines Hauses nicht ausgeschlossen.

Um drei traf ich mich mit einer Freundin und deren Freund auf einen Kaffee. Wir plauderten ein wenig, sie erklärte mir etwas genauer, was es mit Chanukka auf sich hat und welche Gerichte sie für Morgen Abend vorbereiten würde. Ich bin zwar eingeladen, kann aber leider nicht, was sehr schade ist. Dafür planten wir ein wenig für Silvester vor. Auch hier: drei Einladungen habe ich, aber keine macht mich so wirklich an. Ihre Idee, einfach eine kleine Dachterrassenparty zu veranstalten und Wunderkerzen anzuzünden, finde ich sehr viel charmanter als alle anderen. Da in diesem Jahr kein Herzblatt in Sicht ist, mit dem ich wirklich gern ins Neue Jahr feiern möchte, ist es zwar eigentlich egal, aber so eine Party wäre sicher sehr nett.

Gegen fünf verabschiedete mich und stürzte mich ins Abenteuer Fahrradfahren im beginnenden Santiagoer Feierabendverkehr. Merke: Busfahrer haben offenbar noch nichts von den neuen Gesetzen zum Schutz und zur Wahrung des Abstands zu Radfahrern gehört. Das nächste Mal also unbedingt auf Nebenrouten ausweichen. Das ist mir dann doch einen Tick zu gefährlich. Glücklich Zuhause angekommen räumte ich ein wenig auf, hängte die Wäsche ab und chattete noch ein wenig mit dem (Ex-) Verehrer, mit dem nach einem Monat Funkstille nun wieder gesprochen wird. Es gab keinen konkreten, aber viele kleine Anlässe, bis ich schlussendlich die Reißleine zog und ihm sehr deutlich sagte: „Lass mich in Ruhe.“ Wir gehen vorsichtig an die Erneuerung unserer Freundschaft heran. Auch im Interesse unserer gemeinsamen Freunde, die in diesem Monat viel versucht hatten, uns einander wieder näher zu bringen.

Eigentlich hatte ich keine Lust auf Gesellschaft, aber wie so oft in diesen letzten zwei Jahren entschied ich mich spontan um. Die Eröffnung einer Bar ganz in der Nähe und einige Freunde lockten, sodass ich gegen viertel nach acht dort eintrudelte. Zu meiner Überraschung hatten sich mehr Bekannte eingefunden als gedacht (es war auch als Event der Online-Community Internations angekündigt) und es wurde überaus lustig. Nicht nur, dass mein venezolanischer Lieblingstänzer immer neue Salsa-Figuren mit mir probierte, nein, auch der, nun, nennen wir ihn einmal der Einfachheit halber berufsbezogen, „Knochenbrecher“* war anwesend und unterhielt mich mit Ironie und hintergründigen Anspielungen auf gemeinsam verbrachte Stunden. Gegen viertel nach eins und dreieinhalb schlüpfrige Anspielungen später verabschiedete ich mich und ging allein durch die leeren Straßen meines Viertels nach Hause und schlafen.

 

*in der weitergeführten Telenovela wird er seinen Platz finden, aber um von einer Episodenrolle in eine Nebenrolle zu gelangen, reicht es wohl nicht. Das Drehbuch lebt von Helden, Herz und Schmerz und da ist noch einiges offen.

 

 

WMDEDGT 11/18.

Ich bin einen ganzen Tag zu spät dran, denn der 5. eines jeden Monats ist Stichtag für das Projekt von  Frau Brüllen. Aber sei’s drum, wir sind ja hier am Ende der Welt und ich tue einfach mal so, als hätte ich das alles schon gestern getippt.

Mein Tag begann – wie so oft in der letzten Zeit – zwischen halb fünf und fünf Uhr morgens. Es ist nämlich irgendwie symptomatisch, dass ich um diese Uhrzeit aufwache, mich über das frühe Aufwachen ärgere und dieses eben auch so intensiv, dass ich nicht mehr einschlafen kann. Möglicherweise ein Vorgeschmack auf die Wechseljahre, da soll man ja Schlafstörungen entwickeln, aber noch ist mein Hormonstatus im grünen Bereich, sagte der Arzt des Vertrauens beim letzten Blutcheck. Wie dem auch sei: aufstehen musste ich ohnehin um sieben, dödelte aber noch ein wenig im Internet lesend herum, bis ich es um halb acht schließlich zur Morgenhygiene ins Bad schaffte. Ich wusch meine Haare und nach einem Blick aus dem Fenster auf den sonnenbeschienenen Balkon entschied ich: heute wird luftgetrocknet, Locken kommet!

Ich zog mich schnell an, knautschte etwas Arganöl ins Haar und setzte mich mit Kaffee und Marmeladentoast auf den Balkon. Dieser geht in Richtung Südost, was auf der anderen Erdhalbkugel angenehme Kühle im Sommer, aber eben auch nur eine knappe Stunde Sonne im Sommer morgens bedeutet. Ich sonnte mich ein wenig und spürte, wie sich meine sonst glattgeföhnten und gebügelten Haare in lustige Kringel und Wellen legen wollten. Bei knapp schulterlangem Haar besteht immer die Gefahr, dass daraus eine Trapezfrisur im Stil der jungen Madonna wird, deshalb band ich mir die Haare doch lieber zu einem Wuscheldutt zusammen, bevor ich um neun das Haus verließ.

Ich lief meine üblichen 950 Meter zur U-Bahn und machte mich auf den Weg zum Außenministerium. Dort wollte ich mein Diplomzeugnis – übersetzt und beglaubigt – gegenbeglaubigen lassen, um dieses dann wiederum der Universidad de Chile zur Anerkennung zu übergeben. In der Beglaubigungsstelle des Außenministeriums musste ich nur knapp fünf Minuten warten, was mich verwunderte, wollen doch derzeit sehr viele Venezolaner, Brasilianer und Kolumbianer ihre Zeugnisse beglaubigen lassen. Vielleicht war es die für südamerikanische Verhältnisse frühe Stunde, das lohnt sich hier, vor zehn läuft der gemeine Latino nicht auf. Jedenfalls lief mein Anliegen auf Grundeis: die Beglaubigungsstelle der deutschen Botschaft in Santiago hatte alles ordnungsgemäß beklebt und bestempelt – aber die Unterschrift fehlte! Das hatte die Mitarbeiterin glatt vergessen! Ohne Unterschrift keine Beglaubigung, beschied mir die freundliche Außenministeriumsmitarbeiterin und bat mich, einfach noch einmal vorbei zu kommen.

Ich begann, mit meiner inneren Axt auszuholen und gegen deutsche Botschaft zu schwingen, aber es nützte ja nichts. Mit etwas Glück würde ich es noch rechtzeitig vor Ende der Sprechzeiten in die Botschaft schaffen. Dachte ich. Geriet aber auf Abwege, denn auf dem Weg zur U-Bahn überlegte ich, es einfach mal auf gut Glück bei der Universidad de Chile zu versuchen und vielleicht auch ohne Unterschrift und Außenministeriumsbeglaubigung zur Titelanerkennung zu gelangen. Man weiß ja nie.

In der Universidad wusste man auch nicht, aber was man wusste: die Webseite war aufgrund von Wartungsarbeiten abgeschaltet, Dokumente für die Anerkennungsstelle konnten weder down- noch upgeloaded werden und überhaupt hatte man sich im dortigen Büro entschieden, das Arbeiten bis Ende Dezember deshalb einzustellen und keine neuen Anträge mehr anzunehmen. Was insofern etwas blöd ist, denn ich muss bis zum 23. November meinen anerkannten Titel für mein Post Graduate Studium vorlegen. Ohnehin, so beschied mir der freundliche Herr am Empfangstresen, sei mit einer Anerkennungszeit von sechs Monaten zu rechnen. Äh, ja. Meine innere Axt schwang gegen die Mauern der Universidad und möglicherweise stürzt das Gebäude bald ein.

Aber nun auf zur Botschaft, dachte ich, denn es war mittlerweile viertel nach zehn und um 12 schließt man dort auch die Pforten. Ich wollte aber ungern mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, denn auch hier weiß man nie. Also fuhr ich zurück nach Hause, stieg in mein Auto – es war nun kurz vor elf – und fuhr eilig die 15 Minuten bis zur Botschaft. Mit den Öffentlichen hätte das eine knappe Stunde gedauert, nur so als Anhaltspunkt. Nicht alles ist hier gut angebunden, aber immer noch besser als nichts. Ich parkte ganz in der Nähe auf dem Schulparkplatz meines Institutos und ging die Viertelstunde zu Fuß. Beachten Sie die Zeitplanung? Es war ganz genau halb zwölf mittags als ich in der Botschaft ankam. Leider konnte man mein Begehr heute aber nicht mehr entgegen nehmen, denn es hatte einen Systemfehler gegeben und die Computer mussten gewartet werden. Man beschied mir, ich solle doch Morgen wiederkommen. Mittlerweile war meine innere Axt stumpf geworden.

Ich fuhr also unverrichteter Dinge nach Hause und empfing noch eilig den Klempner, der die schlecht geglättete Silikonversiegelung rund um die Toilette erneuern sollte. Das hinterher präsentierte Ergebnis war wiederum nicht zufriedenstellend und ich zeigte ihm mittels Spülmittel und beherzt eingesetztem Zeigefinger, WIE ZUM TEUFEL MAN SILIKONFUGEN GLATT UND SAUBER HINBEKOMMT. Ich hatte auch nur ganz wenig schlechtes Gewissen, so klugscheißerisch unterwegs zu sein, aber – Himmel! Das ist Handwerkerbasiswissen! Die innere Axt hatte ich vor lauter Ärger vergessen.

Gegen 14 Uhr machte ich mich auf den Weg zur Bowlingbahn, um die Anzahlung für eine Reservierung zu leisten. Seit Neuestem war ich nämlich Eventorganisatorin für eine Expat-Community und für die binnen drei Stunden ausgebuchte Veranstaltung musste ich den Termin endgültig festmachen. Als ich um 15 Uhr nach Hause zurückkehrte, hatte ich einen Bärenhunger und aß Couscous mit Restthunfisch und Joghurt. Danach setzte mich mich an meine Unterrichtsvorbereitung für Morgen und machte eigene Hausaufgaben für den Spanischunterricht am Abend.

Dorthin brach ich um kurz vor sechs auf, lernte brav den Gebrauch von Plusquamperfekt und weiterer Vergangenheitsarten, um dann gegen halb neun wieder in der Wohnung zu sein. Ich chattete noch ein wenig mit Freunden und beschloss, nur noch ein bisschen Netflix zu schauen. Nichts Spannendes, derzeit, und so ging ich um elf ins Bett.

 

Wie der Oktober riecht.

Fräulein Read On hat beschrieben, wie ihr Oktober in Irland riecht und nach dem unsrigen gefragt. Wohl an.

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Mein Oktober riecht nach den Blüten des falschen Jasmins, der hier etliche Straßen säumt. Süß duften sie, nach Hoffnung auf einen schönen Frühling, nach Hoffnung auf Liebe, auf Leichtigkeit des Sommers, nach den schönen Dingen des Lebens. Aber es ist eben nicht der echte Jasmin und falsch ist manchmal auch die Hoffnung.

Der Oktober auf der Südhalbkugel riecht nach dem lauen Wind der Anden, der noch ein wenig die Feuchtigkeit des Winters in sich trägt. Er riecht nach dem Gin&Tonic der ersten Balkonabende mit Blick auf die Berge, nach dem Lachen neu gewonnener Freunde, nach dem Vermissen alter und nach dem Versprechen, das das Leben dir manchmal gibt: es ist alles genau so wie es sein soll.

Er riecht auch nach dem, das nicht so ist, wie es einst sein sollte. Nach dem Duft der Küsse, den vertrauten Morgenkaffees, der vietnamesischen Suppe, die wir uns teilten. Er riecht nach dem letzten Kuss, den wir uns gaben. „Wir haben so viel verloren. Ich liebe dich, immer“, sagte der Verehrer. Manchmal muss man verlieren. Manchmal muss man gehen. Manchmal trifft man sich zweimal im Leben. Manchmal nicht. So riecht der Oktober auch.

Mein Oktober riecht nach frisch gewaschener Wäsche, die auf dem Balkon trocknet, nach den bunten Farben der T-Shirts, die das Grau-in-Grau des Winters ersetzen. Er riecht nach dem dunkelroten Nagellack, jetzt kann man ja wieder die Füße zeigen oder doch jedenfalls bald. Er riecht nach den Wolken, die über die Stadt ziehen, das Meer ist nicht weit und sie zeigen in Richtung Pazifik.

Der Oktober riecht nach Papier und Schweiß, nach Korrekturstift und Tränen, denn die finalen Examen stehen an und die Studenten haben sich überschätzt. „Es ist zu viel, viel zu viel“, klagen sie, aber so riecht er eben, der Ernst des Lebens. In den Büros der Unternehmen stinkt es bisweilen schlimmer, sage ich mir. Der Oktober riecht nach der U-Bahn, die ich auf dem Weg zu den Behörden nehmen muss. Nach vielen Menschen, die diesen Weg jeden Tag machen. Er riecht nach Alltag.

Mein Oktober riecht nach dem Kaffee im Büro des Chefs, der dafür verantwortlich ist, dass ich so viele Behördengänge machen muss. Der Kaffee ist kein Pulverkaffee sondern frisch gemahlen, das gefällt ihm besser und mir auch. „Deine Arbeit gefällt mir, sieh zu, dass du alle Papiere beglaubigt bekommst, dann noch ein Jahr und du kannst dir die Jobs in aller Welt aussuchen, was ich für uns aber nicht hoffe“, sagt er. Der Oktober riecht nach einer Berufung, nach dem Beginn eines zweiten Berufslebens, dann eben aber mit offiziellem Titel.

Der Oktober riecht nach dem Blondiermittel, das Madlen auf einige Strähnen meines Haars aufträgt. Ich bin das erste Mal in meinem Leben ziemlich blond und es soll noch mehr werden, denn es sieht gut aus. Und die weißen Schläfen verschwinden in schmeichelnder Helle.

Ganz am Ende des Oktobers kriechen auch hier die Hexen, die Geister und die Toten hervor, sie haben gerade geduscht und fragen nach Süßem oder Sauren. Ich gebe Süßes und denke an den einen Geist, der mir dieses Leben hier ermöglicht hat. Danke, mein Liebster. Dieser Oktoberabschied ist nur für dich.